Sprachspiegel, April 2014
Land und Leute prägen die Sprache
Wallissertitsch lässt die Besiedlung des Berggebiets hörbar werden
Von Daniel Goldstein
Wenn einer, der – mit Mühe kaum – gekrochen ist ambrüff, ambri, schon Wallissertitsch zu können meint, dann irrt sich der (ebenso sehr wie jener, der bei Wilhelm Busch auf einen Baum kroch und sich für einen Vogel hielt). Natürlich gehört zum deutschen Dialekt – oder besser zu den Dialekten – des Oberwallis viel mehr als «hinauf» und «hinunter», und doch kommt es nicht von ungefähr, dass Besucher bald auf diese Wörter stossen. Dies nur schon deshalb, weil es hier in den Bergen eben oft ambrüff und ambri geht, oder je nach Ort auch embrüf, imbriin (und weitere Varianten). Die Richtungsangaben fallen aber auch deshalb auf, weil sie einem die Ohren öffnen für ein Idiom, dessen Vielfalt ihresgleichen sucht. Als Beleg steht am Schluss dieses Artikels für jene, die – buchstäblich und sprachlich – «am Hang» sind, mehr über die Richtungsadverbien.
Eine vom Landschaftspark Binntal organisierte «Sprach- und Erlebniswoche»1 vermittelt den Eindruck, im Oberwallis lasse sich die Verzahnung zwischen Sprache und Land, Leuten sowie Lebensweise besonders gut beobachten. Es soll hier um diese grundsätzlichen Aspekte der Sprachprägung gehen, nicht um den Dialekt an sich und schon gar nicht um dessen lokal sehr fein differenzierte Erscheinungsformen – ausser dort, wo in solchen Unterschieden ein Prägungsmerkmal sichtbar wird. Auf die Finessen der schriftlichen Wiedergabe wird keine Rücksicht genommen, zumal es da verschiedene Schulen gibt; Kenner des Wallissertitsch werden also um Nachsicht für geografische und orthografische Beliebigkeit gebeten.2
1. Spuren der Landnahme
Die Verzahnung von Land und Sprache beginnt mit der Einwanderung. Als höchstalemannischer Dialekt, wie ihn die meisten hiesigen Berggebiete kennen, hat Walliserdeutsch viele Gemeinsamkeiten mit dem Hochalemannischen der übrigen Deutschschweiz und des Schwarzwalds. Sie zeigen sich namentlich in den Unterschieden zum Standarddeutsch, das an dieser Stelle nicht Hochdeutsch genannt wird, um die geografische Bedeutung von «hoch» nicht mit «gehoben» zu vermengen. So sind auch im Wallis Diphthonge wie in Di-eb statt Dieb zu finden, und in umgekehrter Abweichung vom Standard: Hüüs statt Haus.
Das ü im letzten Beispiel oder auch in güet (für gut) ist eine bekannte Walliser Besonderheit. Im Höchstalemannischen allgemein fehlen zudem manche der Diphthonge, die dem übrigen Schweizer- und dem Standarddeutsch gemein sind: So sagt man in den Bergen meist schnije statt schneie(n). Lange hochalemannische Umlaute werden oft entrundet, also Föön zu Feen oder Füür zu Fiir (womit Feuer und Feier lautlich nicht zu unterscheiden sind). Anderseits ist das Wallissertitsch mit dem ungekürzten «ge-» beim Partizip Perfekt (gigangu) näher am Standarddeutsch als andere Schweizer Mundarten. Und «empor» findet sich in der Schweiz nur in ambrüff.
Insgesamt sind damit gewisse Ähnlichkeiten zwischen Schweizerdeutsch und (historischem) Mittelhochdeutsch im Wallis eher noch stärker ausgeprägt, was mit der stärkeren Abtrennung vom übrigen Sprachgebiet zusammenhängen dürfte. Manche Unterschiede innerhalb des Oberwallis lassen sich direkt mit der Besiedlungsgeschichte verknüpfen: Alemannen wanderten vor allem im 9. und 10. Jahrhundert ein, über die Grimsel einerseits, Gemmi und Lötschenpass anderseits. Sie brachten Merkmale mit, die sich zum Teil heute noch auch auf der Berner Seite finden. So sagt man im östlichen Gebiet für ausruhen hirme (wie es im Haslital allerdings selten geworden ist), im westlichen liwwe, entsprechend dem berndeutschen löie.
Die Sprachen, welche die Einwandernden vorfanden, sind bis heute nicht ganz verschwunden. Einzelne Wörter haben sich vor allem in Ortsbezeichnungen erhalten. So steckt im Ortsnamen Grengiols das lateinische granarium (Kornspeicher), und die Stadt Brig fusst auf dem keltischen briga für Hügel(festung). Auch der spanisch anmutende Weiler Aragon unterhalb Ernen soll seinen (auf der ersten Silbe betonten) Namen dem keltischen Wort für Schlehdorn verdanken. Dieser ist freilich in der keltischen Baummythologie unter dem Namen Straif bekannt, wogegen dem Ahorn die keltische Wortwurzel ac zugeschrieben wird (via lateinisch acer).
Die Kelten selber haben sich möglicherweise als «Gotteszwerge» im kollektiven Gedächtnis erhalten – in vielen Sagen tauchen die Goggwäärgini auf (mit charakteristischer Pluralform). Sie hausen – wie vielleicht einst verdrängte Kelten – hoch oben in den Bergen und sind hilfsbereit, solange man sie in Ruhe lässt und ihren Ratschlägen folgt, falls man ihnen doch begegnen sollte. In der – auch sprachlich – überreichen Walliser Sagenwelt mischt sich Heidnisches mit Christlichem, so wenn unerlöste Seelen als Boozo über die Weiden geistern. Das Idiotikon bringt das Wort mit dem Bösen in Verbindung.
Weit häufiger als Kelten und Römer haben die Alemannen mit ihrer Landnahme die heutigen geografischen Bezeichnungen geprägt – wie anderswo am auffälligsten mit den Ortsnamen auf -ingen, nach dem Oberhaupt der jeweiligen Siedlersippe. Auf der Wanderung von Blitzingen nach Reckingen im Obergoms begegnet man fünf derart benannten Ortschaften, unterbrochen nur von Biel. Das ist die örtliche Form von Bühl (für Hügel), die auch in vielen Zusammensetzungen vorkommt. Wo so ein Biel, Bieu oder Hubu ausläuft, liegt eine Chumme, zuunterst ein Bode oder Loch.
Solche und ähnliche Benennungen nach topografischen Eigenheiten oder nach der Nutzung (wie Fäld, Matte, Weid oder Acher) kommen natürlich nicht nur im Wallis vor. Man trifft indessen auch auf manche Besonderheit, zum Beispiel den Hengert, den Dorfplatz etwa in Ernen. Aus Heim und Garten zusammengesetzt, hat sich das Wort selbständig gemacht und bedeutet auch das an dieser Stelle geführte Gespräch; demnach als Verb hengerte (wie doorffe) plaudern oder gar liebäugeln. Dabei mag man auch erfahren, warum eine bestimmte Weide Fasnachtsschnitta heisst: weil ihr einstiger Besitzer sie an einer Fasnacht als Spiel- oder Zechschuld verloren habe.
2. Bauen und bauern
Sehr reichhaltig hat sich, wie in anderen Berggebieten, die alpine Lebensweise im Wortschatz niedergeschlagen, mit Ackerbau im Tal und jahreszeitlichem Weidegang die Bergflanken ambrüff, mit den entsprechenden Tätigkeiten, Gerätschaften und Gebäuden. Typisch fürs Wallis sind die Miischplatta, Plaane, Müüsuplatta, Plattu, Pfiilerplattu, Steiplattu, Schiibu, Schiibplatta, Schiibbeiplattu, Plaanu, Stadelplaana.3 Damit ist immer das Gleiche gemeint: die «runde, auf Stelzen liegende Steinplatte, die durch ihr Vorkragen ein unüberwindliches Hindernis für Mäuse bildete» – eben für ischi Miisch, wie sie Hannes Taugwalder in einem (auch vertonten) Gedicht verewigt hat. Die Umformung von «unsere Mäuse» ist doppelt charakteristisch: Neben die Entrundung des ü zu i tritt die Palatalisierung von s zu sch.
Weitere Besonderheiten gibt es auf Dorfrundgängen zum Beispiel in Ernen oder Mühlebach zu entdecken, mit Führung oder Faltprospekt. Die Heidenhäuser etwa stammen zwar entgegen dem Volksglauben nicht aus vorchristlicher Zeit, sondern aus dem 16. Jahrhundert. Erkennbar sind sie an den Heidenbalken, senkrechten Stützen unter dem First. Meist tragen diese ein Kreuz, das paradox benannte Heiduchriitz. Bisweilen sieht man zudem einen Seelupalggo (Seelenbalken) – eine Luke unter dem Dach, durch die man angeblich die Seele verstorbener Angehöriger entweichen liess; es gibt aber auch bautechnische Erklärungen. Wer ins Innere eines Hauses gelangt, etwa ins Jost-Sigristen-Museum in Ernen, kann unter anderem den Dilböüm bewundern, den verzierten mittleren Deckenbalken in der guten Stube.
Der Heimatschutz sorgt mit dem Erhalt der Gebäude auch für jenen der entsprechenden Ausdrücke. Dagegen verlieren sich andere Wörter, weil die entsprechenden Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt oder Einrichtungen nicht mehr verwendet werden. Wer weiss noch, wie in seiner Gegend das Wort für «die Spreu vom Weizen trennen» lautet? Im Wallis ist es wanne, von der Kornwanne, die dazu diente. Das standarddeutsche «worfeln» wiederum kommt von der Bewegung. Althochdeutsch gab es dazu die «wintworfa», die Wurfschaufel, von welcher der Wind die Spreu davontrug – daher englisch «to winnow».
Anderseits gibt es im Wallis für durchaus gewohnte landwirtschaftliche Güter Dialektwörter, die der Besucher aus der Üsserschwiiz nicht versteht, etwa die Luzza. Das sei Gülle, wird der Bauer sagen, wenn er freundlicherweise dusslet, also so redet, dass ihn die Besucher von draussen hinter den Bergen verstehen. Gilla aber, so mag er beifügen, entspreche wohl dem Wort «Gülle», bedeute aber Pfütze oder Teich. Kommen die Gäste aus noch grösserer Ferne, wird er ihnen von der Jauche erzählen. Dass die einheimische Luzza vom lateinischen luteus (kotig, von lutum) stammt, wird wohl auch der sprachkundige Bauer im Idiotikon nachschauen müssen.
Sicher aber weiss er, dass sein Borretsch mit dem italienischen porro und dem französischen poireau verwandt ist, weil er damit nämlich nicht die Heilpflanze meint, sondern den Lauch. Der norddeutsche Besucher wird dann ausrufen: Ach so, Porree! Manches kulinarische oder andere Wort wanderte aus dem französischsprachigen Unterwallis hinauf, andere kamen mit Säumern über die Pässe aus Italien oder mit Söldnern aus fremden Diensten: «Ab der Welt» war das Wallis nie. So kann die Gilla auch ein Puzz sein (italienisch pozza), und so kann die Türe zur Poorta werden oder der Streitfall zur Kweschtioo. Beigelegt wird der Fall vielleicht mit einem Schluck aus dem Butilli, dem (hölzernen) Behälter für Tranksame.
Was auf den Tisch kommt, stammt zuweilen auch sprachlich aus der eigenen Küche; voran das Oberwalliser «Nationalgericht» Cholera (oder Choleri, Chouera, je nach Ort). Dieser währschafte Eintopf im Teig hat seinen Namen von der glühenden Kohle, in die traditionellerweise die irdene Form zum Backen eingebettet wurde. Heute tut’s – auch in der Sprach- und Erlebniswoche – ein Backofen. Wer nicht gerade fisierlich (schnäderfrässig, wählerisch) isst, wird ds Täller fleets hinterlassen, also nicht un-flätig, sondern sauber leergegessen – und mit dem gebeugten Adjektiv fleets, auch wenn es wie hier prädikativ verwendet wird und daher nach dem Bezugswort Täller (Neutrum!) steht.
3. Wege des Wassers und der Menschen
Reich sprudelt der Wortschatz aus dem Wasserbau, der im trockenen Wallis eine besondere Bedeutung erlangt hat. Durch oft unwegsame Hänge und Felswände bringen Suonen das Gletscherwasser von der Schepfi (Fassung) auf die steilen Weiden und Roggenäcker. Im Dialekt heissen die Rinnen etwa (Wasser-)Leita oder Süen. «Suone» ist eine an die Standardsprache angelehnte Schreibform. Während das Idiotikon einen «ungermanischen» Ursprung vermutet, stellt die auch in sprachlicher Hinsicht informative Website Suone.ch eine wohlbegründete Verbindung zu althochdeutsch suoha (Furche, Graben) her.
Wo der senkrechte Fels keine Furche zuliess, mussten Chänil aufgehängt werden. Dazu schlug man Toggulecher in den Fels und befestigte darin je einen (Holz-)Chrapfo, einen hakenförmig gewachsenen Baumstamm. Der oft gefährliche Bau und Unterhalt sowie Verwaltung und Verteilung des Wassers haben ihr eigenes Vokabular. Wer unterhaltenen und zugänglichen Suonen entlangwandert, erhält einen ersten Eindruck vom Einsatz, den die lebenswichtige Wasserversorgung erforderte. Die Erlebniswoche bot Gelegenheit, selber Hand anzulegen (natürlich in sanftem Gelände): Mit Wässerbieli und Wässerplatta galt es, die Wiese unterhalb des Gerinnes zu versorgen – Werkzeug, das zwar gut verständliche Namen trägt, aber speziell geformt ist und Geschick erfordert.
Wer so weit gekommen war, bewegte sich auch gewandt ambrüff und ambri – und war damit bereit für weitere Finessen der Orientierung am Hang. Es braucht dazu zwar nicht gerade 1000 Worte – aber besser als diese ist auch hier ein Bild, das untenstehende Schema. Ohne die Vorsilben hin- und her-, die in schweizerdeutschen Adverbien nicht vorkommen, wird auch gesagt, ob sich jemand zum Sprechenden hin oder von ihm weg bewegt. Besondere Formen drücken wiederholte oder soeben erfolgende Bewegung aus. Laut Einheimischen ist das ganze Spektrum in Gebrauch. Insgesamt ergibt sich eine Vielfalt und Subtilität, wie sie sonst in der Schweiz kaum, ähnlich aber noch in Bayern zu finden ist.4
Ihr gleichsam mit der Muttersprache eingesogener Orientierungssinn hat manche Oberwalliser weit ambrüff gebracht, von Kardinal Matthäus Schiner bis Fussballkönig Sepp Blatter. Sie taten «Schritte in die Welt hinaus», wie es in Niederwald auf dem Gedenkbrunnen für den Hotelierkönig Cäsar Ritz heisst. Umgekehrt ist dem Oberwallis die Aussenwelt mit dem Lötschberg-Basistunnel noch näher gerückt. Verlieren werden die Einheimischen ihr Wallissertitsch kaum, aber dass sie vermehrt dussle, ist schon länger zu beobachten.
Lesebeispiele:
Er chunt amap =
er kommt herunter (zum Sprecher).
Er geit ap = er geht hinunter (weg vom Sprecher oder ohne Bezug auf diesen).
Vorsilbe «-ver»: Er isch verap = er ist auf dem Weg nach unten.
Nachsilbe «-che» (von cho, kommen): Er chunt amap = er kommt zurück.
(Schema: Volmar Schmid, Erläuterungen)
Verwendete
Bücher (alle mit Zusatzinformationen zur Sprache):
Alois Grichting. Wallissertitschi Weerter. Rotten Verlag, Visp. 5. Aufl. 2011
Volmar Schmid. Kleines Walliser Wörterbuch: Gebäude. Wir Walser, Brig 2003. (Informationen daraus und zu weiteren Sachgebieten auch auf www.walser-museum.ch )
Maurus Schmid. Wasser – kostbares Nass. Die Wasserleitungen an den «Sonnigen Halden» Joli-, Bietsch-, Baltschieder- und Gredetschtal. Rotten Verlag, Visp 1994
1Die
Teilnahme des «Sprachspiegels» erfolgte auf Einladung. Nächste
Durchführung: 1.–6.9.2014,
Landschaftspark Binntal, 3996
Binn, http://landschaftspark-binntal.ch
2Meistens wird eine Variante aus dem Wörterbuch von Alois Grichting angegeben, zuweilen eine aus den andern ebenfalls am Schluss angeführten Werken. Grichting schreibt Wallissertitsch aussprachegerecht mit -ss-.
3Volmar Schmid, S. 139 und www.walser-museum.ch (>Glossar>Miischplatta)