Sprachspiegel, April 2016
Die Tiere lernen wieder essen
Verbale Gleichheit von Mensch und Tier: Rückkehr zu den Wurzeln
Von Daniel Goldstein
Das waren noch Zeiten, als man Tiere daran erkannte, dass sie fressen und saufen, und – sofern sie Weibchen sind – trächtig werden und dann Junge werfen. Letztere machten wohl den Anfang, indem sie sich zu Babies befördern liessen. Damals verwendete man auch im Deutschen noch den englischen Plural, und die Bébés hatten den Rückzug in die schweizerische Mundart bereits angetreten. Inzwischen haben, Robbenbabys voran, die Tierkinder die sprachliche Gleichstellung mit den Menschenkindern schon weitgehend geschafft.
Was als Baby eines Muttertiers – pardon, einer Tiermama – zur Welt kommt, wird auch nicht mehr geworfen, sondern geboren; um einen Weitwurf handelte es sich ja bei diesem Vorgang nie. Aus den Alten sind Eltern geworden, weiblichenfalls zuweilen schwangere, nicht etwa trächtige. Fürs Herbeiführen dieses Zustands freilich ist «decken» immer noch das gängige Wort – wie lange noch? Auch als Frauen und Männer werden die Elterntiere erst selten bezeichnet; gar als Damen und Herren nur dann, wenn sie durch besonders stolzes Auftreten auffallen und damit sanften Spott auslösen. Aber essen und trinken haben schon viele von ihnen gelernt, und manche tun es statt mit dem Maul mit dem Mund, wenn dieser nicht gerade ein Schnabel ist. Auch mit Letzterem lässt sich essen: So war in einer Zeitung ein distinguierter Silberreiher abgebildet, der laut Legende gerade «Fisch isst».
Hinter der sprachlichen Gleichberechtigung steckt wohl die Überzeugung, dass wir alle dem Tierreich angehören; schliesslich galt der Mensch schon den alten Griechen als «zoon politikon», als geselliges Tier (oder Lebewesen). Was ihn allerdings nicht daran hinderte, sich zahlreiche andere Tiere untertan zu machen und sich allen überlegen zu fühlen. Wie andere Herrschaftsverhältnisse, so hat sich auch dieses in der Sprache abgebildet. Die Bemühungen, solchen Sprachgebrauch zu ändern, führten meist über die Identifikation eines «-ismus», den es zu bekämpfen galt.
Paradebeispiele, und in ihren sprachlichen Konsequenzen bis heute Streitgegenstand, sind der Rassismus und der Sexismus. Dass gegenüber Tieren Speziesismus herrsche, hört man seltener; der Ruf nach artgerechter Haltung impliziert eher, verschiedenen Arten gebühre eben unterschiedliche Behandlung. Allein für die menschliche Spezies gültige Ausdrücke sind (oder waren) im Deutschen besonders ausgeprägt. Sie für Tiere zu verwenden, sehe ich als Ausdruck des Bestrebens, den Homo sapiens nicht mehr als etwas Besseres darzustellen, sondern zur demütigen Einordnung in die Natur anzuhalten.
Dagegen ist nichts einzuwenden, solange es nicht mit Zwang verbunden ist. Es ist ja gerade das Schöne an der Vielfalt der Ausdrücke, dass sie allen die Gelegenheit gibt, ihre Einstellung zum Tierreich auch mit der Wortwahl kundzutun. Die Kehrseite ist, dass man im Deutschen dem Wählenmüssen kaum entkommt: Redet eine (schwangere) Frau von einem trächtigen Tierweibchen, so läuft sie Gefahr, als Speziesistin abgestempelt zu werden, obwohl sie vielleicht gerade eine besondere Verbundenheit empfindet und diese bloss nicht in gewählten Worten ausgedrückt hat.
Zunehmend verpönt ist es, Tiere sprachlich zu verunglimpfen. Ornithologen haben vor Langem schon den Raubvogel in Greifvogel umbenannt, um ihm sein Verhalten nicht mehr anzukreiden. Zu Lande und zu Wasser tummeln sich Beutetiere, und wenn das Anstoss erregt, wohl künftig Schnapptiere. «Dumme Kuh» sollte man sowieso nicht sagen, aber auch die Sauordnung wird vermutlich abgeschafft, und ob der Platzhirsch oder der Löwenanteil noch salonfähig sind, wird sich weisen müssen. Auch Pflanzen kommen in den Genuss sprachlicher Korrektheit: Kein Kraut darf noch ein Unkraut sein, und bald ist es wohl auch anrüchig, es des Wucherns zu bezichtigen.
Lässt sich der hier vermutete Sprachwandel auch wissenschaftlich belegen? Nach Auskunft von Damaris Nübling, der Autorin des vorstehenden Aufsatzes, ist die Frage noch kaum untersucht worden. Ihre Doktorandin Julia Griebel beschäftigt sich nun damit und hat mich auf einen Ansatz hingewiesen: Klaas Willems, «Essen oder fressen? Eine Fallstudie zum Verhältnis von Korpusdaten und Intuition in der lexikalischen Semantik».1 Der Titel weist schon darauf hin, dass es nicht in erster Linie um die beiden Verben geht, sondern primär um ein Problem der wissenschaftlichen Methodik, nämlich ob es in der Linguistik «ein hierarchisches Verhältnis» gebe «zwischen subjektiver Sprachkenntnis und sorgfältiger empirischer Datenerhebung». Der Autor plädiert für ein Miteinander ohne Hierarchie.
Eine vorübergehende Besonderheit des Deutschen
Willems untersucht anhand von Wörterbüchern und Korpora (elektronischen Textsammlungen) die Bedeutungen der beiden Verben, allerdings ausdrücklich nicht «diachron», d. h. nicht im Zeitverlauf. Einige Hinweise ergeben sich aber dennoch. So zitiert er aus dem «Deutschen Wörterbuch» (Neuausgabe des Grimm’schen, 1999–2006): «essen: nahrung zu sich nehmen. vom menschen, bis zum beginn des 17. jhs. auch vom tier». Dagegen bedeutet «fressen» nach den Brüdern Grimm beim Tier die gewöhnliche Nahrungsaufnahme, beim Menschen indessen die «übermässige, unzivilisierte», und das Verb wird auch vielfach in übertragenem Sinn verwendet. Die Verengung von «essen» auf den Menschen vom 17. Jahrhundert an weicht sich nun, wie mir scheint, wieder auf.
Dafür gibt es bei Willems einen indirekten Beleg: Er untersucht die Verwendung der beiden Verben anhand zweier Korpora: des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, Abteilung «Archiv») und der Suchmaschine WebCorp.org.uk (angesetzt auf Websites mit der Adressendung «.de»). Das DeReKo besteht aus einer Datenbank mit elektronisch erfassten Texten, die teils aus dem Internet stammen, teils aus gedruckten Werken, deren elektronische Version nicht unbedingt auch im Internet greifbar ist. Ich vermute, die erfassten Texte seien bei WebCorp eher jünger.
Bei jenen Belegen aus dem DeReKo, die Willems näher untersucht hat, findet er 515-mal Hunde, die fressen, dagegen nur 21 essende. Bei der WebCorp-Recherche ergibt sich aber das Verhältnis 362 zu 268. Bei den Katzen liegen die Verhältnisse ähnlich, und auch bei den Kühen holt «essen» auf, wenn man den Vergleich zeitlich sehen darf, allerdings weniger deutlich. Generell sind es vor allem Haustiere, bei denen neben «fressen» auch «essen» in nennenswerter Häufigkeit verwendet wird. Dieser Befund wird laut Willems schon «in der ersten Fassung des Deutschen Wörterbuchs erwähnt», also bei den Brüdern Grimm.
Nimmt diese verbale Vermenschlichung nun zu und dehnt sie sich auch auf freilebende Tiere aus, so nähert sich das Deutsche vielen anderen Sprachen an, in deren Vokabular nicht oder nur wenig zwischen tierischen und menschlichen Tätigkeiten unterschieden wird. So schreibt die Doktorandin Julia Griebel in einem E-Mail: «Das Deutsche nimmt mit seiner stringenten lexikalischen Trennung zwischen Mensch und Tier eine Sonderstellung unter den Sprachen ein. In germanischen Sprachen etwa scheint es keine Sprache ausser dem Deutschen zu geben, die menschliche und tierische Nahrungsaufnahme lexikalisch trennt. Bei Körperteilbezeichnungen sieht das aber wohl anders aus (was aber eben auch daran liegt, dass eine Pfote anders aussieht als eine Hand etc.).»
Griebel weist – wie kurz auch Willems – darauf hin, dass die Unterscheidung sprachgeschichtlich neueren Datums ist: «Interessant ist die Tatsache, dass diese Grenze, wie sie im Neuhochdeutschen besteht, in früheren Sprachstufen überhaupt nicht bestanden hat: fressen bedeutete ursprünglich ‹aufessen› (was man dem Verb ja noch ansehen kann: ver-essen), saufen ‹schlürfen, trinken› (vor allem bei Menschen), Haut und Fell hatten ein und dieselbe Bedeutung ‹Haut (Tier und Mensch)›, bis Luther eine Unterscheidung einführte; trächtig konnte eine Frau ebenso wie ein Tier sein, Frauen und Tiere säugten ihre Neugeborenen gleichermassen und, und, und …» Statt dahin zurückzukehren, behandeln wir nun oftmals Tiere wie Menschen – jedenfalls sprachlich, und jedenfalls die «gleicheren» unter den Tieren.
© Daniel Goldstein (Sprachspiegel – www.sprachverein.ch)
1Erschienen in: Deutsche Sprache, Heft 39, S. 154–183. IDS Mannheim 2011.