«Sprachspiegel», Feb. 2018
Vom unbeschriebenen Blatt zum offenen Buch
Buchmetaphern helfen, Menschenwesen greifbar zu machen
Von Daniel Goldstein
Zu kaum einem von ihm geschaffenen Objekt pflegt der Mensch engere Beziehungen als zum Buch – von Kleidung vielleicht abgesehen. Und so, wie «Kleider Leute machen», sagt der Umgang mit Büchern viel über Leute aus. «Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist» – das ist womöglich die Urform dieses vielfach abgewandelten Sprichworts. Die Identifikation kann so weit gehen wie bei den Anhängern der Buchreligionen, die an den gemeinsamen, göttlichen Ursprung ihrer selbst und ihrer heiligen Schrift glauben.
Aber auch auf tieferer – buchmässig gesagt: prosaischer – Ebene haben viele Analogien Eingang in unsere Sprache gefunden. Über Bücher wird zuweilen geredet wie über (menschliche) Lebewesen – davon handelt der anschliessende Beitrag in diesem Heft (ab Seite 13). Zunächst soll es um die umgekehrte Blickrichtung gehen: Nicht selten greifen wir zu Buchmetaphern, um über einen Mitmenschen etwas auszusagen. Wissen wir noch nichts über ihn oder sie, so haben wir ein unbeschriebenes Blatt vor uns. Bis in der Folge aus beschriebenen Blättern ein Buch wird, mag es eine Weile dauern; im Grunde genommen ist nicht das Buch, sondern die Schriftlichkeit an sich die Quelle der meisten Analogien Buch–Mensch.
In ihrer «Einführung in die Schriftlinguistik» schreibt die Zürcher Professorin Christa Dürscheid:
Welchen Stellenwert die Schrift hat, sieht man auch am Vorkommen von Redewendungen, die auf das Schreiben Bezug nehmen. Hier eine Auswahl: «Papier ist geduldig», «etwas für das A und O halten», «bei jemandem in der Kreide stehen», jemandem «ein X für ein U vormachen», «kein Blatt vor den Mund nehmen», niemanden «abstempeln», er «lügt wie gedruckt», er «redet wie ein Buch», er redet «nach der Schrift», er ist «kein unbeschriebenes Blatt», das kann man jedem «schriftlich geben», das sollten sich alle «hinter die Ohren schreiben», darauf könne man «Brief und Siegel geben», das «spreche Bände», man wolle nun endlich «einen Punkt setzen», das Ganze sei «druckreif». Die Beispiele machen deutlich, dass unser Sprachgebrauch in doppeltem Sinne schriftgeprägt ist: Nicht nur, dass in der gesprochenen Sprache die geschriebene Sprache als Folie dient. Im Beschreiben bestimmter Sachverhalte bedienen wir uns schriftbasierter Metaphern.1
Soweit diese «Sachverhalte» Menschen betreffen, etwa ihr Auftreten oder ihren Charakter, geht es oft darum, dass man darin bestimmte Eigenschaften von Büchern wiederzuerkennen glaubt, im Guten oder im Schlechten. Diese Extreme können einander berühren: Wer druckreif redet, redet klug oder zumindest wohlgesetzt, wer aber redet wie ein Buch, bei dem meint man nicht die Qualität des Gesagten, sondern die Quantität: Schier endlos sprudelt die Rede aus diesem Menschen wie aus einem dicken Buch – nur dass man dieses auch wieder weglegen kann, selbst wenn es fesselnd ist; dem Buchredner aber ist man ausgeliefert, wenn man nicht unhöflich sein will.
Wahrscheinlich ist, wer redet – und hoffentlich nicht lügt – wie gedruckt, sehr belesen oder gar, wenn man an der Liebe zum gedruckten Wort etwas bemäkeln will, ein Büchernarr oder eine Büchernärrin. Punkto Beurteilung etwas neutraler und punkto Geschlecht schon fast neutral wäre die Bezeichnung als Bücherwurm. Soll’s bewundernd sein, so kann man von einem wandelnden Lexikon reden. Dieses könnte aber trotzdem, wenn sich die fragliche Person etwa hinter der angelesenen Gelehrsamkeit versteckt, ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Wer zu diesem Bild greift, oft auch für einen unpersönlichen Sachverhalt wie die Relativitätstheorie, denkt kaum an die Bedeutung in der Johannes-Offenbarung, wonach das Lösen der sieben Siegel dem Jüngsten Gericht vorangeht.
Am andern Ende im Spektrum der Lesbarkeit steht jemand, in dem man lesen kann wie in einem offenen Buch. Von dieser Redensart ausgehend, zieht der Germanist und Historiker Tilmann Walter eine überraschende Parallele: «Die revolutionäre Leistung Vesals – und Luthers – besteht also eigentlich darin, nur die wahrhaft göttlichen Texte als authentisch zu erkennen: die Bibel und das ‹Buch der Natur›.»2 Allerdings attestiert er beiden Gelehrten, dass sie «im Fleisch menschlicher Leiber lesen wie in einem offenen Buch». Das tat wohl nur der Anatom (vgl S. 18), während der Reformator eben im Buch der Bücher las und dieses für Deutschsprachige recht eigentlich öffnete.
Vom Buch als der Wissensquelle sprach auch der damalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler, als er am 24. Oktober 2007 die wiederhergestellte Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar eröffnete und sich nach dem Grund der Wertschätzung von Büchern und Büchereien fragte:
Ich denke, das hat damit zu tun, dass das Buch zur Metapher für Erkenntnis und Verstehen schlechthin geworden ist – und dass das Lesen eine Grundmetapher für Verstehen überhaupt ist. […] Der Philosoph Hans Blumenberg hat einem Buch über dieses Phänomen den schönen Titel «Die Lesbarkeit der Welt» gegeben. Selbst für die […] Erkenntnisse der Naturwissenschaften benutzen wir die Metapher von Schrift und Buch, um diesen Erkenntnisprozess zu beschreiben: Die Wissenschaftler lesen im «Buch der Natur», und jetzt […] lesen sie den genetischen Code, also die Schrift, die jedem Lebewesen seine Form und Struktur «vorschreibt».3
Seither haben die Genetiker gelernt, den Code nicht nur zu lesen, sondern auch zu schreiben. Wird man dereinst in Menschen hineinschreiben wie in ein offenes Buch?
«Ein Mann – ein Wörterbuch» In der Zeitschrift «Der Sprachdienst» hat Nicola Frank die Redensart «ein Mann – ein Wort» auf Wörterbuchautoren wie Duden und Adelung umgemünzt, «ganz ohne männerfeindlichen Hintergedanken». Das ursprüngliche Wort, so schreibt sie weiter, «soll zum Ausdruck bringen, dass ein einmal gegebenes Wort gilt. Es stammt aus einer heute nicht sehr bekannten Ballade von Friedrich Schiller. […] Unter anderem recht bekannt geworden ist die Erweiterung zu ‹Ein Mann – ein Wort. Eine Frau – ein Wörterbuch›, die von Lutz Röhrich in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten als frauenfeindlich eingestuft wird. Ganz nüchtern inhaltlich betrachtet soll diese Variante jedoch erst einmal nicht mehr aussagen als dies: Männer sprechen wenig, Frauen sprechen viel.» (http://gfds.de/category/glosse) |
1 Christa Dürscheid: Einführung in die Schriftlinguistik, Göttingen 52016, S. 41, mit Verweis auf Helmut Glück, Schrift und Schriftlichkeit, Stuttgart 1987, S. 7 f.
2 Tilmann Walter: Unkeuschheit und Werk der Liebe, Berlin / New York 1998, S. 465.