«Der Bund», 8. 2. 2013

Das Privileg des Totschlags

Wer in einem Zeitungsbericht liest, für einen Verhafteten oder eine Angeklagte gelte die Unschuldsvermutung, weiss vermutlich, was gemeint ist: Nämlich nicht das, was das Wort vermuten lässt, wenn man es ohne Vorkenntnisse vorgesetzt bekommt. Beim Wort genommen, müsste «Unschuldsvermutung» ja bedeuten, dass jemand – die zuständige Behörde oder der Berichterstatter – vermutet, die betroffene Person sei unschuldig. Aber dann gäbe es kaum einen Grund, sie der Justiz zuzuführen bzw. darüber zu berichten, was ihr zur Last gelegt wird.

Oft sind solche Berichte recht drastisch und ausführlich, und irgendwo steht noch das Sätzchen mit der Unschuldsvermutung – wahrscheinlich auf Anraten der Rechtsabteilung des Verlags, damit man der Zeitung nicht vorwerfen kann, sie habe den mutmasslichen Täter vorverurteilt. Denn die Mutmassung oder eben Vermutung auch der Leserschaft geht in der Regel dahin, dass «er es war». Aber in der Juristensprache gilt die Unschuldsvermutung in einem ganz bestimmten Sinn, der im englischen Ausdruck präziser gefasst ist: «innocent until proven guilty». Oder deutsch und andersherum gesagt: Schuldig ist nur, wem man das (rechtskräftig) nachgewiesen hat.

In der Rechtsprechung, in der es um ganze Schicksale gehen kann, ist präzise Sprache besonders wichtig. Das bringt es mit sich, dass Fachausdrücke verwendet werden, die für Laien nicht ohne Weiteres verständlich sind oder sie gar auf eine falsche Fährte führen. Wer vom «Privileg des Totschlags» hört, könnte an den Kinohelden James Bond und seine berühmt-berüchtigte «Licence to kill» denken – an die Ermächtigung, zu töten, die einem der Filme den Titel gab.

Aber das kann ja nicht gemeint sein, wenn ein Gerichtspräsident so zitiert wird: «Das Privileg des Totschlags kommt dann zur Anwendung, wenn die Tat unter einer entschuldbaren heftigen Gemütsregung geschieht.» Aus dem Zusammenhang des Prozessberichts wurde klar, was es mit diesem Privileg auf sich hat: Für das Gericht war zwar der (strenger zu ahndende) «Tatbestand der vorsätzlichen Tötung vollumfänglich erfüllt», als ein Hanfbauer einen flüchtenden mutmasslichen Dieb erschossen hatte. Aber es hielt ihm die genannte Gemütsregung zugute, und damit gehörte er unter den Urhebern einer «materiellen» vorsätzlichen Tötung zu jenen Privilegierten, die nur wegen Totschlags verurteilt werden.

Das «privilegium» ist nach dem lateinischen Wortsinn entweder ein Gesetz, das nicht für alle gilt, oder eben das Vorrecht, das ein solches Gesetz bestimmten Personen gewährt. Genau so verwenden die Juristen das Wort; zum Totschlag präzisiert das Strafgesetzbuch noch, die heftige Gemütsregung müsse «nach den Umständen entschuldbar» gewesen sein. Festzulegen, was das nun wieder bedeutet, ist Aufgabe der Rechtsprechung, dank der das fragliche Privileg mit der Zeit immer fester umrissen wird.

Im allgemeinen Sprachgebrauch freilich hat ein Privileg nicht unbedingt etwas mit dem Gesetz zu tun; in den meisten Fällen wohl nicht. Man kann sich privilegiert fühlen, in der Schweiz geboren worden zu sein, eine harmonische Familie zu haben, einen erfüllenden Beruf auszuüben oder vieles andere mehr – kurzum, wenn es einem besser geht als andern. Und diese andern sind dann «unterprivilegiert» – ein aus dem Englischen übernommener Euphemismus für arm, benachteiligt. Nach dem Wortsinn gälte die Bezeichnung jemandem, der mit weniger als dem gebührenden Mass an Vorrechten ausgestattet ist. Man ahnt Juristenfutter – aber zum Glück ist «unterprivilegiert» kein rechtlicher Begriff.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)