«Der Bund», 28. 12. 2012
Wenn Wissenschafter Sprachpfleger rügen
Akademische Sprachkundige haben, so könnte man meinen, das Heu auf der gleichen Bühne wie Sprachpfleger, die zum Beispiel in Zeitungskolumnen der geneigten Leserschaft zu «gutem Deutsch» verhelfen wollen. Aber da täuscht man sich, vor allem wenn der Kolumnist Bastian Sick heisst. Je mehr Erfolg der «Spiegel»-Journalist mit seinen (bisher vier) Büchern «Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod» hat, desto mehr Kritiker ruft er unter den Linguisten auf den Plan. Sie weisen ihm nicht nur sachliche Fehler nach, sondern stellen oft seinen ganzen Ansatz in Frage, bestimmte Sprachgebräuche in Glossen anzuprangern und der lernbegierigen Leserschaft Orthografie-, Stil- oder Grammatikregeln in mundgerechten Portionen nahezubringen.
Mehrmals wurde zum Beispiel die süffisante Art angeprangert, mit der Sick nach eigenem Bekunden (Band 2) den Textchef des «Spiegels» in den Senkel gestellt hatte. Es ging um den Titel «Terroristen exekutieren US-Soldat», an dem der Textchef festhielt. Denn es war nur ein einziger Soldat; der von Sick gebieterisch verlangte Akkusativ «US-Soldaten» indessen hätte eine Mehrzahl suggeriert. Linguisten rieben dem «selbsternannten Sprachguru» unter die Nase, es gebe durchaus Fälle, in denen es korrekt sei, Artikel und Endung wegzulassen, zum Beispiel «das Verhältnis zwischen Patient und Arzt».
Das allerdings ist eine Wendung, die in einem korrekten Satz vorkommen kann, während der fragliche Titel im Telegrammstil gehalten war, für den es keine verbindlichen Regeln gibt. Wenn «einen Soldaten» nicht Platz hat, muss man wählen: «Soldaten» mit missverständlicher Akkusativ-Endung oder «Soldat» – eindeutig, aber unschön. Sick selber räumt zwar ein, dass oft verschiedene Formen richtig sein können, aber er neigt dazu, seine eigenen Präferenzen als «richtig» unters Volk zu bringen. Wie sein Erfolg zeigt, entspricht er damit einem verbreiteten Bedürfnis nach eindeutiger Festlegung.
Mit der letzten Reform der Rechtschreibung hat die Zahl der Fälle zugenommen, in denen mehrere Schreibweisen zulässig sind; die Verunsicherung dürfte Sick weiteren Zulauf beschert haben. In der Sprachwissenschaft indessen hat heute die Erforschung des tatsächlichen Sprachgebrauchs den Vorrang vor der Normensetzung; manche Linguisten lehnen Vorschriften rundweg ab. Besonders rabiat fiel die Kritik André Meinungers aus, der seinem Buch den kalauernden Titel «Sick of Sick?» (Kadmos-Verlag, 2008) gab.
Damit hat er seinen Fachkollegen Karsten Rinas herausgefordert, der im Buch «Sprache, Stil und starke Sprüche» (Lambert Schneider, 2011) einen Mittelweg sucht im jahrhundertealten Konflikt zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik, den er kenntnisreich nachzeichnet. Über Meinunger schreibt Rinas: «Die Frage, ob auch dem Bemühen um Sprachpflege ein rationaler Kern zugrunde liegen könnte, kommt ihm gar nicht in den Sinn»; alles Normative sei ihm suspekt, die Duden-Grammatik mithin «genauso verdammenswert wie die Sick'schen Glossen».
Zwar sucht Rinas gemeinsamen Boden, aber er teilt auch selber wacker aus, besonders gegenüber der «konzeptlosen Besserwisserei Sicks» sowie Meinungers «Arroganz und Ignoranz». Was sie und ihresgleichen laut dem Autor voneinander lernen könnten: die Sprachkritiker natürlich, dass sie auf wissenschaftlichem Boden argumentieren sollten, und die Linguisten, dass sie «Anliegen der Sprachpflege ernst nehmen». Denn auf Gebieten wie dem Umgang mit Fremdwörtern oder der Verwendung weiblicher Formen gebe es für sie viel zu tun. Die Geschlechterfrage spornt Rinas zu ironischen Spitzen wie «BrüderInnen im Geiste» an, wobei er auch gleich noch sachfremde Polemik gegen gesellschaftliche Anliegen von Homosexuellen unterbringt. Insgesamt aber hilft das Buch, die Linguistik vom Beobachtungsposten auf den steinigen Boden der Sprachpflege zu locken.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)