«Der Bund», 23.3.2012
Der Markt verwöhnt, der Markt verlangt
Was der Markt nicht alles kann: Der (elektronische) Blick in Deutschschweizer Zeitungen eines einzigen Regensonntags zeigt: Er «hat uns verwöhnt», «gibt nicht mehr her», «velangt es» (nämlich Investitionen), und im Plural haben die Märkte «eine Entwicklung antizipiert». Dass ein Markt, allein oder in ganzer Schar, als handelndes Subjekt daherkommt, ist keine neue Erscheinung, aber die Finanzkrise hat wohl dazu geführt, dass sich derartige «Markttätigkeit» im allgemeinen Sprachgebrauch häuft.
Diese Erscheinung ist in den letzten Monaten auch in «Bund»-Kolumnen aufgegriffen worden, die sich nicht speziell mit sprachlichen Fragen beschäftigen, sondern in einem Fall mit psychologischen, im andern gar mit «der Wahrheit». Und in beiden Fällen wurde konstatiert, dass die Märkte, von denen so die Rede ist, nicht nur tatkräftig zupacken können, sondern schier allmächtig sind, gottähnlich, mithin menschlichem Einfluss entzogen. Der Sprachgebrauch kann dazu beitragen, dass sie so wahrgenommen werden, aber er steht kaum am Ursprung solcher Verabsolutierung des Markts als Weltenlenker.
Dieser Ursprung liegt eher darin, dass der Marktwirtschaft mit der Abdankung des Kommunismus (zumindest als Wirtschaftssystem) die Konkurrenz abhanden gekommen ist: Der Markt für ökonomische Modelle funktioniert nicht mehr. Aber jener Markt, der sich als Modell weitgehend durchgesetzt hat, tut nach wie vor nichts selber – das besorgen immer noch jene, die an ihm teilnehmen, und in verstärktem Mass jene, die dabei den Ton angeben. Nur weiss man oft nicht, wer sie sind – und es kann sein, dass just sie besonders gern den Markt als Täter darstellen, damit sie selber im Dunkeln bleiben.
Aber es braucht keine solche Verschwörungstheorie, um das Sprachbild vom handelnden Markt zu erklären: Es ist durchaus üblich, eine Entscheidung dem Mechanismus zuzuschreiben, mit dem sie getroffen wird: Über den Cupsieger entscheidet der Final, bei Unentschieden muss das Penaltyschiessen es tun. Die Auszählung entscheidet darüber, wer eine Wahl gewinnt, und statt Elfmetern gibt's wenn nötig einen Losentscheid. Es kann sein, dass dabei geschummelt wird – aber das wäre keine sprachliche Schummelei.
Auch die Politik kann in dieser Weise zum Handlungsträger werden, gerade wenn gefordert wird, sie müsse den Markt in die Schranken weisen oder ihm zumindest Leitplanken setzen. Die gleiche Auswahl sonntäglicher Publikationen zeigt: Die Politik «sollte Probleme anpacken», ein Fussballclubpräsident will von ihr Unterstützung, eine Studie ist an sie adressiert, sie «hat die Initiative unterschätzt». Nur unterstellt der Politik kaum jemand Allmacht, und man weiss – zumindest besser als beim Markt –, wer dahintersteckt.
Besonders hübsche Blüten kann die Sprache treiben (auch sie handelt!), wenn von marktwirtschaftlicher Regelung politischer Vorgänge die Rede ist – zum Beispiel in der Woche vor jenem Sonntag im Berner Stadtrat: Das Gemeindeparlament beriet über den Lohn von Regierungsmitgliedern, und laut einem SVP-Sprecher «spielt der Markt» für Gemeinderäte, denn schon beim geltenden Lohn bewürben sich 13 Leute um die 5 Sitze.
Es ging aber auch darum, dass die Löhne für Chefbeamte auf dem Markt für derartige Könner und Könnerinnen nicht mehr konkurrenzfähig seien. Und dass man den Gemeinderäten doch nicht weniger Lohn geben könne als den ihnen unterstellten Amtschefs. Eine FDP-Frau begründete dies mit der «natürlichen Lohnhierarchie», ein SP-Mann mit dem «Primat der Politik». Ja gewiss: Man hat ja bei den Banken gesehen, wohin es führt, wenn Finanzmarkt-Tausendsassas widernatürlich mehr verdienen als ihre Chefs. Und dass die Politik ihren Primat bekräftigen muss, indem sie gewählten Garanten des Gemeinwohls marktgerecht mehr Lohn zuteilt als angestellten Managern, ist auch nicht frei von Ironie.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)