«Der Bund», 9. 3. 2012
Rezepte gegen akustische Allergie
Leiden Sie auch an akustischer Allergie? Dieses Unwohlsein befällt viele Deutschschweizer, wenn sie aus heimischen Lautsprechern Klänge vernehmen, die ihren Ursprung weiter nördlich im deutschen Sprachraum haben – je weiter, desto schlimmer. Und besonders schlimm, wenn die Lautsprecher öffentlichen Institutionen dienen, etwa in den Medien oder im Verkehr. Mich störte es vor Jahren, als ein Fernsehmoderator – Schweizer notabene – prononciert «zwanzich, dreissich» von sich gab. Und in jüngerer Zeit, als im Kulturradio DRS 2 die Betonung «Télefon» um sich griff, mit spitzer (geschlossener) Aussprache des betonten ersten e, nicht etwa schweizerisch offen.
Zu Ehren des TV-Mannes: Der Duden, der im Internet zu manchen Wörtern die Aussprache hören lässt, kennt bei den Zehnerzahlen nur die Endung «-ich». Das neue Duden-Wörterbuch «Schweizerhochdeutsch» dagegen empfiehlt, diese «besonders in Nord- und Mitteldeutschland übliche Aussprache zu meiden». Der allgemeine Duden lässt das «Telefon» endbetont erklingen; die spitze Betonung der ersten Silbe gilt als Nebenform.
Als ich das Schweizer Wörterbuch in einem Zeitungsartikel («Schweizer Stallgeruch») vorgestellt hatte, schrieb mir ein Leser: Er freute sich, dass eine neue Tagesschau-Sprecherin von «Tschüss» zu «Auf Wiedersehen» gewechselt hatte. Aber auch darüber, dass vor einigen Jahren die Berner Regionalbahn RBS ihre Durchsagen vom «unangebrachten» Dialekt auf Hochdeutsch umgestellt hatte. Allerdings nach seinem Geschmack zu stark: «Sympathisch wäre es, wenn die Aussprache ein klein wenig schweizerisch klingen würde.»
Für mich klingt sie nicht krass deutschländisch – aber zugegeben: Bei den SBB tönts ebenso gepflegt, indes sympathischer. Das Wort «deutschländisch» steht übrigens im Online-Duden («Gebrauch: besonders österreichische und schweizerische Sprachwissenschaft»). Kommt die Durchsage nicht aus der Tonkonserve, sondern vom Zugpersonal, so ist sie zuweilen recht ungeschult helvetisch, immer häufiger aber auch muttersprachlich deutschländisch. Mit mehr oder weniger Akzent, zum Beispiel – alemannisch anheimelnd – mit schwäbischem. Und oft mit der natürlichen Freundlichkeit, die Deutschschweizern beim ungeliebten Hochdeutsch leicht abhanden kommt.
Erst recht verkrampfen sich viele Schweizer, wenn sie mit mündlicher Schriftsprache auf deutsche Ohren treffen. Dazu gibt es keinen Grund: Wir dürfen bei Deutschen durchaus mit akustischer Sympathie rechnen, vor allem dann, wenn unsere Aussprache sie an den Kabarettisten Emil erinnert (auch wenn uns das vielleicht unangenehm ist). Oder gar, wenn sie meinen, Schweizerdeutsch zu vernehmen, das gar nicht so schwer zu verstehen sei. Als einst ein (Schweizer?) Zwischenrufer Friedrich Dürrenmatt aufforderte, Hochdeutsch zu reden, gab der zurück: «Höcher kann ich nicht.» Diese Anekdote erzählte der Moderator Juri Steiner in einer höchst hörenswerten TV-Sternstunde über Mundart und Schriftsprache mit dem Germanisten Peter von Matt und dem Schriftsteller Pedro Lenz.
Ein ganz anderes Problem mit der Aussprache in den Medien griff ein weiterer Leser auf, nachdem ich eine «Sprachlupe» über unterschiedliche Sprechgeschwindigkeiten geschrieben hatte: die Verständlichkeit. Der 92-Jährige wunderte und ärgerte sich über «einen Radio-Profi»: «Den habe ich bei Gesprächen, die er führte, regelmässig schlechter verstanden als den Nichtprofi, den er befragte.» Seine bemerkenswerten Beobachtungen zur Aussprache sind im Brief zu «Silbensalven» zu finden. Er erinnert die Radio- und TV-Verantwortlichen daran, «wie wichtig die Sprechqualität ihrer Akteure vor allem für alte Hörer ist». In der Tat – und die Verständlichkeit ist auch wichtiger als die mehr oder weniger helvetische Färbung der Aussprache.
© Daniel Goldstein