«Der Bund», 8.7.2011
Mit Gebärden lässt sich alles sagen
«Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass Gebärdensprachen eine Art improvisiertes Scharadespiel sind. Jahrhundertelang wurden diese Sprachen deshalb ignoriert oder sogar gezielt unterdrückt, und mancherorts werden sie es noch immer. Tatsächlich aber handelt es sich um natürliche menschliche Sprachen, die denselben Grundprinzipien folgen wie jede gesprochene Sprache auch.» Dies schrieb kürzlich der Hamburger Linguist Anatol Stefanowitsch in seiner Internetkolumne «Sprachlog» (auf Wissenslogs.de). Der Text trug den Titel «Die andere Sprachvielfalt der Schweiz» und wies auf das Online-Lexikon des Schweizerischen Gehörlosenbunds hin.
Wer schon einmal Gelegenheit hatte, sich mithilfe einer Dolmetscherin für Gebärdensprache mit einem Gehörlosen zu unterhalten, kann den Befund des Linguisten nur bestätigen: Es ist ein vollwertiges, nuanciertes Gespräch «in Echtzeit» möglich. Hat der Gesprächspartner zuvor, ebenfalls dank Simultanübersetzung, einen Vortrag aufmerksam verfolgt, so hat er davon mindestens so viel mitbekommen wie durchschnittliche Hörende. Beim gedolmetschten Gespräch, so bemerkt ein Betroffener, verschwinde auch das verbreitete Vorurteil schnell, Gehörlosigkeit gehe mit geistiger Beschränkung einher.
Kein Wunder, geben viele Vertreter der Gehörlosen der Gebärdensprache den Vorrang vor den Bemühungen, die Betroffenen möglichst gut in Lippenlesen und Lautbildung zu trainieren, damit sie sich mit Hörenden, die keine Gebärden verstehen, unterhalten können: Das wird in den meisten Fällen eine notdürftige Verständigung bleiben. Mit dem Argument, Gehörlose dürfe man ihrer Kultur der Gebärdensprache nicht entreissen, werden zuweilen sogar Versuche bekämpft, durch Implantate ein gewisses Hören zu ermöglichen.
Diese Auslegung des «Rechts auf Gebärden» wird nicht von allen Gehörlosen geteilt. Einhellig aber fordern sie, mehr öffentliche Anlässe sollten von Gebärdensprache-Dolmetschern begleitet werden. In manchen Ländern sind diese auch am Fernsehen stark präsent; so war es stets, wenn der japanische Regierungssprecher die Entwicklungen um Fukushima erläuterte. Das Schweizer Fernsehen bietet eine Tagesschau mit Gebärden-Übersetzung (SF Info). Im Deutschen Bundestag ist eine Petition eingereicht worden, der Gebärdensprache den Status einer anerkannten Minderheitensprache zu geben.
Wie aber kommt das «Wunder» zustande, dass sich komplexe Sachverhalte mit Gebärden in ebenso kurzer Zeit darlegen lassen wie mit Worten? Eine Dolmetscherin erklärt, die Gebärdensprachen ermöglichten es, manchmal mehrere Dinge gleichzeitig auszudrücken, und sie gehorchten einer eigenen Grammatik. Es liegt buchstäblich auf der Hand, dass diese Grammatik auf Effizienz angelegt wurde. Die Deutsche Gebärdensprache etwa verwendet systematisch die Abfolge Subjekt-Objekt-Verb, wie Stefanowitsch darlegt, also «ich einen Apfel esse», was in der Standardsprache nur im Nebensatz richtig ist.
Leider sind weder die Grammatik noch der Wortschatz verschiedener Gebärdensprachen identisch; gäbe es nur eine, so wäre sie ein formidables Esperanto. Historisch unter dem Einfluss von Landessprachen gewachsen, aber auch in Abweichung davon, bilden sie laut dem Hamburger Linguisten verschiedene Familien. So seien die niederländische und die amerikanische Gebärdensprache aus der französischen hervorgegangen, ebenso die italienische. Von den beiden letztgenannten gibt es je eine Schweizer Variante, während die Deutschschweizer Gebärdensprache «zumindest teilweise unabhängig» entstanden ist.
Das Ende April mit rund tausend Wörtern aufgeschaltete Schweizer Online-Lexikon wird laufend ausgebaut. Es zeigt in den drei Gebärdensprachen (zum Teil mit Dialektvarianten) jeweils das Wort und einen Satz, der es enthält, in einer Videosequenz. Um sie zu finden, muss man das Wort in der entsprechenden Schriftsprache kennen und eintippen. Anstelle langer Beschreibungen: Probieren Sie es aus! (signsuisse.sgb-fss.ch)
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)