«Der Bund», 10.6.11
Ganze Völker als kriminelle Sippen?
«Tamilen sind krimineller als Ex-Jugoslawen.» Es ist schon einige Monate her, dass diese Behauptung als Titel über einer Kurzmeldung stand – aber dass Statistiken nach dem gleichen Muster zusammengefasst werden, passiert immer wieder. Die dahinter steckende Verallgemeinerung kann fatale Folgen haben, also schicksalhafte, etwa bei der Stellensuche. In der Meldung ging es um die schweizerische Kriminalstatistik 2009, laut der «Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien doppelt oder dreimal so viel in Konflikt mit dem Gesetz geraten» wie Einheimische, und Tamilen nochmals doppelt so viel, womit sie «fünfmal krimineller als Schweizer» seien. Proportional gerechnet, darf man annehmen.
Es soll hier nicht um die Gleichsetzung von «kriminell» und «mit dem Gesetz in Konflikt» gehen; auch nicht darum, ob der statistische Vergleich die unterschiedlichen Anteile «besonders krimineller» Altersgruppen innerhalb der erfassten Nationalitäten berücksichtigt und auch die soziale Schichtung oder den Aufenthaltsstatus. Sogar wenn die Statistik um alle verfälschenden Faktoren korrigiert worden ist, bleibt die summarische Feststellung irreführend, die einen seien krimineller als die andern. Denn sie kann auch als Behauptung über Einzelpersonen verstanden werden: der Koch Ramatalingam sei, weil Tamile, krimineller als der serbische Kellner Radoslavovic – auch wenn beide noch gar nichts verbrochen haben.
Das klingt absurd, aber nach genau dieser Logik zahlen Angehörige bestimmter Nationalitäten in der Schweiz höhere Autohaftpflichtprämien, andere (oder dieselben) dürfen keine Waffen kaufen oder werden neuerdings bei der Einreise besonders registriert. All dies mit der Begründung, weil unter diesen Menschen statistisch häufiger solche seien, die Unfälle verursachten oder Verbrechen begingen – und daher die Wahrscheinlichkeit höher sei, dass dies auch bei einer bestimmten Einzelperson früher oder später zutreffen werde. Ein Merkmal, bei dem sich in der Statistik fehlbares Verhalten häuft, wird also zum Anlass für eine Benachteiligung genommen.
Das läuft darauf hinaus, dass Angehörige solcher Gruppen kollektiv für das Fehlverhalten einzelner haften, jedenfalls sofern sie ein Auto halten oder eine Waffe erwerben wollen, oder falls ihnen aus der Einreiseregistrierung ein Nachteil erwachsen sollte. Man kann durchaus von Sippenhaftung reden, auch wenn das Wort aus neueren Ausgaben des Orthografie-Dudens getilgt worden ist. Im Internet taucht es wieder auf (duden.de), mit den Zusätzen «Völkerkunde» bzw. «nationalsozialistisch». Warfen die Nazis Angehörige ihrer Gegner ins Gefängnis, so hiess das Sippenhaft – ein Wort, das im gedruckten Duden ebenfalls eine Weile fehlte, jetzt aber mit dem Zusatz «früher» wieder drinsteht.
«Früher» ist jetzt, nimmt man «Sippe» und «Haft» nicht wörtlich. Auch wenn sie nicht mit Nazi-Vokabular umschrieben wird, bleibt jede durch Verallgemeinerung begründete Haftpflicht anstössig. Betroffen davon sind nicht allein einzelne Nationalitäten. Es reicht, in einem bestimmten Kanton oder Amtsbezirk zu wohnen, und schon ist die Krankenkasse teurer, nach dem Motto: «Genferinnen rennen häufiger zum Arzt als Appenzellerinnen.» Die Prämienstufen bedeuten, dass die ihnen unterworfene Bevölkerung als Solidargemeinschaft behandelt wird. Das ist bei der Krankenversicherung einigermassen akzeptiert, und bei den Steuern noch in etwas höherem Mass.
Was aber sicher nicht angeht, ist die Konstruktion solcher Solidargemeinschaften durch saloppe Sprache. Der eingangs zitierte Titel entspricht der Unsitte, von der Statistik auf die Einzelperson zu schliessen. Weniger verfänglich wäre «Mehr Kriminelle bei Tamilen als bei Ex-Jugoslawen» gewesen, von der Problematik des Begriffs «Ex-Jugoslawe» einmal abgesehen. Denn so stünden, genau gelesen, nur Täter, nicht Völker als verbrecherisch da.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)