«Die Politik», Juni 2012

Müssen Deutschschweizer Hochdeutsch sprechen?

«Selbstverständlich», werden die einen sagen, schliesslich hätten das ja alle in der Schule gelernt. Dass es auch andere Ansichten gibt, musste etwa der Germanist Peter von Matt erfahren, als er sich am 16. 10. 2010 im «Tages-Anzeiger» zum Thema geäussert hatte, unter dem Titel «Der Dialekt als Sprache des Herzens? Pardon, aber das ist Kitsch!». Da hatte er in ein Wespennest gestochen, und manche Reaktionen im Internet fielen «ungehobelt, bäurisch und stillos» aus: Sie warfen dem Professor vor, mit just dieser Verunglimpfung habe er das Schweizerdeutsch angegriffen. Zwar stimmte das Zitat, aber es bezog sich nicht auf die Mundart selber, sondern auf die Unsitte, «mit Deutschen und Österreichern sofort und ausschliesslich im Dialekt zu sprechen».

Davon könnten in der Tat nicht nur deutschsprachige Ausländer ein garstig Liedchen singen, sondern auch fremdsprachige. Und, vom Schweizer Standpunkt aus schlimmer noch, auch Eidgenossen romanischer Zunge machen dieselbe Erfahrung; so der Genfer Nationalrat Antonio Hodgers. Er hatte seinen Wohnsitz für ein Jahr nach Bern verlegt, um sprachlich einzutauchen. Doch sein mühsam in der Schule gelerntes Hochdeutsch nützte ihm in der Bundesstadt herzlich wenig.

Verständigung und Identität

Er schlug dann vor, im höheren Bildungswesen und in der breiteren politischen Öffentlichkeit Hochdeutsch als Norm zu setzen. Die Dialekte indessen «sollen als regionale Sprachen sowie als Träger der regionalen Identität und Kultur anerkannt werden» (Parlamentsprotokoll). Wie jetzt von Matt wurde auch Hodgers von manchen so krass missverstanden, als geschähe es mit Absicht: Die einen warfen dem Nationalrat vor, er wolle Schweizerdeutsch in der Öffentlichkeit verbieten; die andern aber, er wolle die Mundart zur regionalen Nationalsprache erheben. Letzteres Szenario hatte er als eines von mehreren in der «NZZ am Sonntag» vom 21. 3. 2010 entworfen – und sogleich verworfen.

Besonders heftig angegriffen wurde von Matt, der selber wacker ausgeteilt hatte, für seine Feststellung, es habe sich «der Wahn ausgebreitet, der Schweizer Dialekt sei die Muttersprache der Schweizer und das Hochdeutsche die erste Fremdsprache». Im Verlauf des Artikels sprach er dann nur noch vom «Wahn, der Dialekt sei die einzige und eigentliche Muttersprache», und er bezeichnete als Muttersprache «Deutsch in zwei Gestalten: Dialekt und Hochdeutsch». Für den schriftlichen Ausdruck ist das so gut wie unbestritten, aber dass sich viele Deutschschweizer mit dem gesprochenen Hochdeutsch schwertun, kommt nicht nur vom Mangel an Ausbildung oder gutem Willen.

Schnabelwuchs und Ammensprache

Der Schnabel ist uns tatsächlich schweizerdeutsch gewachsen; der Dialekt ist, marketingdeutsch gesagt, unser Alleinstellungsmerkmal, wenn auch nicht verkaufsfördernd. Hochdeutsch ist, und sei es von früher Jugend an, eine anders erlernte Sprache – jene des grösseren Kulturraums, dem die Deutschschweiz angehört. Damit ist nicht gesagt, auf Schweizerdeutsch gebe es keine Kulturleistungen – aber auch diese nähren sich aus dem intensiven Kontakt mit dem Hochdeutschen. Die deutsche Sprache ist – auch für jene, die keine Hochschule besuchen – eine Alma mater, eine Nährmutter. Sie ist also wenn nicht Mutter-, so zumindest Ammensprache.

Nicht nur mit Österreichern und Deutschen verbindet uns Hochdeutsch (oder was sie dafür halten); es verbindet uns ebenfalls mit all jenen, die sich die Mühe nehmen, Deutsch als Fremdsprache zu lernen. Es ist schlicht eine Notwendigkeit des Anstands, mit ihnen Hochdeutsch zu reden, wenn sie Schweizerdeutsch nicht verstehen. Von Deutschsprachigen allerdings, die in der Deutschschweiz heimisch werden wollen, darf man verlangen, dass sie den Dialekt verstehen lernen. Meist möchten sie das selber, bitten gar darum, «Schwyzerdütsch» mit ihnen zu reden, auch wenn sie bei ihrer Hochsprache bleiben. Diese Bitte sollten wir erfüllen, auch wenn es uns in einem solchen Gespräch womöglich leichter fiele, unsere Hochsprache zu benützen.

Sprachschule der Nation

Dort aber, wo Hochdeutsch der besseren Verständigung dient, sollten wir es ohne «Chrampf» auch mündlich verwenden können. Eine zentrale Rolle beim Erwerb dieser Fähigkeit spielt die Schule; da es dabei auch um die Verständigung unter den Sprachregionen geht, kann man durchaus mit Willy Brandt sagen: «Die Schule der Nation ist die Schule.» Spielerisch und anknüpfend an Medienerfahrungen der Kinder hat Hochdeutsch schon im Kindergarten seinen Platz – ohne «Dialektverbot», wie es jene gern an die Wand malen, die Kindergärtnerinnen Mundart vorschreiben wollen.

Sie argumentieren dabei zuweilen auch, Dialekt zu lernen fördere die Integration fremdsprachiger Kinder. Das tut es zweifellos, doch werden einheimische und zugewanderte Kinder miteinander ohnehin dafür sorgen. Und für beide ist der ndliche und schriftliche Erwerb des Hochdeutschs notwendig für die spätere Integration ins Berufs-, Kultur- und Staatswesen. Es wird im Lauf der Schulzeit immer grösseres Gewicht erlangen, ohne dass es deswegen nötig ist, die Mundart etwa aus dem höheren Turnunterricht zu verbannen.

Dass im öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen der Dialekt immer breiteren Raum einnimmt, ist aus dieser Sicht nicht eben sinnvoll. Unterhaltung mag besser ankommen, wenn sie «bi de Lüt» in deren mundartlichen Umgangssprache gepflegt wird. Aber Themen mit starkem Bezug zu schriftlichen Unterlagen und Diskussionen lassen sich auch mündlich besser auf Hochdeutsch behandeln und sei es nur, um uns Politikersätze wie diesen (nur leicht fiktiven) zu ersparen: «In Bezug uf d’Vernähmlassig isch ferner zbetone, dass dVereinbarkeit vo Bruef und Familie stärcherer Beachtig bedarf.» Der Satz wäre übrigens auch auf Hochdeutsch nicht gut.

Daniel Goldstein

Dr. phil. Daniel Goldstein ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» (www.sprachverein.ch). Für den Berner «Bund» schreibt er die Kolumne «Sprachlupe» (sprachlupe.ch).