«Der Bund», 26.11.10

Von einem, der auszog, Rotwelsch zu lernen

Statt frei draussen herumzutippeln, sitzt er im Knast («jidd. knass – Strafe»), denn er ist verschüttgegangen, und das Beste, was er dort tun kann, ist pausen. Kommt einem beim letzten Wort «pfuse» in den Sinn, dann ist man mit Schweizerdeutsch gar nicht schlecht bedient, um die Wiener Ganovensprache zu verstehen: «Tippeln» ist auch dort gewöhnliches Gehen, und dass Verschüttgehen hier Verhaftung bedeutet, ahnt man. Eine unterhaltsame und erhellende Einführung in «Rotwelsch, die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden» bietet Roland Girtler in einem soeben neu aufgelegten Buch.* Schon früher hat er verschiedene «Randkulturen» in Einzelstudien erforscht und dann in einem Buch mit dem Untertitel «Theorie der Unanständigkeit» zusammengefasst.

Die gelegentliche Nähe zum Schweizerdeutschen ist dem österreichischen Autor verborgen geblieben, aber er ist auch nicht Sprachwissenschaftler, sondern Soziologe – nicht einer, der mit Fragebogen und Erbsenzählen arbeitet, sondern einer, der in die Kulturen, die er erforscht, eintaucht und sie lieb gewinnt. «Ero-episches Gespräch» nennt er seine Methode, wenn auch nicht von Eros abgeleitet, sondern von eromai (griech. ich befrage). Ansonsten hält er aber nichts vom Soziologenjargon, den er mit Seitenhieben eindeckt: Dieser sprachlichen Randgruppe gilt seine Liebe nicht. Wohl aber jenen, die aus Sicht der etablierten Gesellschaft «unanständig» leben, jedenfalls unangepasst, und die sich auch selber absetzten, so durch gegenseitige Überlebenshilfe, das Ehrgefühl der Gruppe und eben die eigenen Sprachgebräuche. Was unter dem Begriff «Rotwelsch» zusammengefasst wird, ist eine Vielfalt von Abwandlungen der deutschen Sprache, mit abweichenden Wortbedeutungen und vielen Anreicherungen, vor allem aus dem (ebenfalls deutschen) Jiddischen samt dessen Anleihen beim Hebräischen, dann auch aus Sprachen der «Zigeuner» (die Girtler nicht weiter differenziert), aus Nachbarländern und aus dem Latein.

Das Latein und auch mittelhochdeutsche Findlinge (als mögliche Spur zum Schweizerdeutschen) verweisen auf die alte Tradition des Vagabunden- und Gaunerlebens, das sich auf mittelalterlichen Strassen und Märkten abspielte, im Kontakt mit fahrenden Scholaren und jüdischen Händlern. «Rotwelsch» ist als Begriff erstmals 1250 belegt; ob es von der Farbe, der Rotte oder gar dem Rotz kommt, ist unsicher. Für diese «Geheimsprache» und die Lebensweise ihrer Benützer interessierten sich die Behörden, etwa in einem «Baseler Rathsmandat» von 1450, aber auch Humanisten wie Ulrich von Hutten (dass ihn Girtler «von Nutten» nennt, ist ein passender Lapsus, da auch die Dirnensprache ins Rotwelsche gehört) oder im 19. Jahrhundert Romantiker wie Hoffmann von Fallersleben.

Von «reinem» Rotwelsch konnte wohl nie die Rede sein; heute geht es eher noch um Spurensuche; auch Girtlers grundlegende Studien sind schon einige Jahrzehnte alt. Dafür haben es etliche rotwelsche Ausdrücke in die Alltagssprache gebracht – bei jenen jiddisch-hebräischen Ursprungs wie Beiz (Haus), Kies (für Geld) oder Ganove (Dieb) ist unklar, ob auf direktem Weg oder eben vagabundierend. Der Rechtschreibe-Duden weist ein einziges Wort als rotwelsch aus, nämlich «jenisch». Laut Girtler leiten die Fahrenden ihre Selbstbezeichnung aus dem «Zigeunerischen» ab, wo dsian klug bedeute. Die Sprache der Jenischen gehört ebenfalls ins Rotwelsch-Universum.

16 weitere Wörter sind als «gaunerspr.» gekennzeichnet. Im Duden-Universalwörterbuch zählte 2003 eine Seminararbeit über Rotwelsch (Ruhr-Universität Bochum) 77 Wörter, deren Ursprung gaunersprachlich sei. Dazu gehören Kohldampf (aus zwei Roma-Wörtern für Hunger), Pustekuchen (eine Verballhornung für «wenig schlau» aus dem Hebräischen) und Riecher, wie man ihn auch für sprachliche Zusammenhänge haben muss, wenn man sich einer Sprachgruppe nähern will.

© Daniel Goldstein

* Roland Girtler: Rotwelsch. Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden.
Böhlau, Wien, 2., erweiterte Auflage 2010. 278 S., Fr. 37.90