305: «Der Bund», 8. 10. 2021

Wer Unterstellungen merkt, hat mehr vom Lesen

Auch wenn man sie nicht zu praktizieren gedenkt, lohnt es sich, die Kunst der Unterstellung zu kennen. Denn nicht immer kommt sie so offenherzig daher wie in diesem Zeitungszitat aus Brüssel über das Verkehrschaos hüben und drüben vor dem Brexit: Es «passt Johnson ins Kalkül», behauptete der Zwischentitel in Tamedia-Zeitungen, doch darunter stand nur, es komme ihm «möglicherweise ganz gelegen», weil er die Schuld auf die EU schieben könne. Im Gegenteil, der EU passe es, so tönte es gleichentags aus London in den gleichen Blättern: Für den Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, sei der «Stillstand am Ärmelkanal nichts als eine tückische Finte» der EU, um einen Handelsvertrag zu ihren Gunsten zu erzwingen.

Durchschaubar war auch eine Glosse auf Infosperber.ch, die das aktuelle Corona-Virus als «Vorkämpfer» lobte, unter anderem für: «Unterstützung der massgebenden politischen Eliten bei der Durchsetzung zentraler Entscheidungsstrukturen, bei der Entwicklung neuer Überwachungsmethoden, der Verschärfung von Grenzkontrollen, der Respektierung von Demonstrationsverboten. (…) Impulse für den Ausbau des Onlinehandels, den freien Wettbewerb im Gesundheitswesen, für die Einführung von Kurzarbeit, die Verschlankung unrentabler Abteilungen und ein entschlossenes Eingreifen in die festgefahrene Arbeitsplatzpolitik».

Die vom Virus unterstützten Eliten hatten ihre Rechnung aber ohne eine andere, diesmal deutsche Plattform gemacht. In deren Auftrag holte das Umfrageinstitut Insa Meinungen ein, auch zu folgender Aussage: «Ich finde es falsch, dass die Bundes­regierung in der Corona-Pandemie zu wenig auf die Experten hört, welche die Massnahmen der Bundesregierung kritisieren.» So mit der Behauptung geimpft, die Regierung höre zu wenig auf die kritischen Experten, stimmte die relative Mehrheit von 47 gegen 29 Prozent der Meinung zu, Berlin handle damit falsch. Und die kritische Plattform Reitschuster.de konnte titeln: «Mehrheit will, dass Regierung bei Corona mehr auf Kritiker hört.»

Eine subtilere Art der Unterstellung ist bei Zitaten in indirekter Rede möglich. Die Wiedergabe enthält naturgemäss nicht den genauen Wortlaut, sollte diesen aber auch nicht mit Ungesagtem verfälschen. Hier tat sie es: «‹Das Volk› vertraue nur ihm, Vucic dem Grossen». Dass sich der serbische Präsident nicht selber als «den Grossen» bezeichnet hatte, liesse sich nur daraus schliessen, dass der Ausdruck ohne Anführungszeichen stand, anders als «das Volk». Haften aber bleibt der Eindruck des offenen Grössenwahns. Auch ein lobender Unterton kann in leichtfertiger Zitierweise stecken: «Allen Konfliktparteien scheint es gut zu tun, dass Merkel das Thema nun zur Chefinnensache erklärt hat.» Hat sie das genderbewusste Femininum selber gebraucht? Wahrscheinlich nicht, und nicht einmal «Chefsache»; sie hatte nur einen «‹Agrargipfel› im Kanzleramt (sic)» einberufen.

Just bei diesem Thema muss ich nun beichten, dass auch ich mir einst eine gut versteckte Unterstellung erlaubt habe: «Wer würde denn heute in Deutschland noch das Frauenwahlrecht anfechten?» So fragte ich rhetorisch, nachdem die Duden-Chef­redaktorin Kathrin Kunkel-Razum folgende Aussage bemängelt hatte: «Im Herbst sind 64 Millionen Bürger wahlberechtigt.» Da müsse man «im Prinzip» die Zahl der «Einwohner» kennen, um zu merken, ob auch von Frauen die Rede sei, befand sie. Ergänze man aber «und Bürgerinnen», so sei es gleich klar.

Das wiederum bezeichnete ich als «recht spitzfindig» und unterstellte zur Begründung ebenso, man fechte das Frauenwahlrecht an, wenn man bezweifle, dass weibliche Bürger bei den 64 Millionen mitgezählt seien. Zudem markierte ich leicht maliziös, dass die Chefredaktorin das Maskulinum «Einwohner» allein verwendet hatte. Aber es ist schon so: Selbst wer nur die Anzahl der (wahlberechtigten) Männer kennt, sieht ein, dass unter den 64 Millionen auch Frauen sein müssen.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)