303: «Der Bund», 10. 9. 2021

Wer hat ein Flair für grossstädtisches Flair?

Leute mit einem Flair für Sprache mussten sich wundern, als in Schweizer Zeitungen nicht mehr nur Menschen ein Flair für dies oder das zeigten, sondern auch Örtlichkeiten Flair bekamen. Die können natürlich kein Gespür für irgendetwas entwickeln, also musste ihr Flair etwas anderes seinzum Beispiel: «Der Zürcher Club Mascotte verströmte grossstädtisches Flair.» Oder: «Das blumengeschmückte Neuenburg strahlt französisches Flair aus.» Zuerst argwöhnte ich, da fehle eben das Flair fürs richtige Wort, aber ein Blick in den Duden belehrte mich eines Schlechteren: Das Wörterbuch nennt als erste Bedeutung «Fluidum, Atmosphäre», und als zweite: «besonders schweizerisch für feiner Instinkt». Und neben «das» sei auch «der Flair» richtig.

Das französische «flairer» bedeutet wittern, was nur Lebewesen tun können oder heutzutage Sensoren, aber denen hat meines Wissens noch niemand «un flair» für irgendetwas nachgesagt, also ein Gespür, einen Riecher. Ebenso wenig hat ein Ort «un flair» – will man ein französisches Wort in unveränderter Bedeutung übernehmen, so bietet sich «cachet» an, hier im Sinn von Gepräge. Neuenburg hätte demnach französisches Cachet. Auch dieses Wort führt der Duden, aber allein für die Schweiz. 1961 war es noch ohne Landeskennung verzeichnet, jedoch als «veraltet»; 1991 war es dann «schweizerisch, sonst veraltet».

Noch stärker setzte der Zahn der Zeit dem Flair zu: 1961 war es «veraltet für: Spürsinn», also dem Sinn nach ganz à la française. Spätestens 1991 war dann der «Sinneswandel» zur oben angeführten Definition vollzogen, noch ergänzt um «gewisses Etwas». Bereits mit der Einschränkung «besonders schweizerisch» versehen war die eigentliche französische Bedeutung. Die ist im Digitalen Wörterbuch dwds.de gar nicht aufgeführt; da gibt es nur «Atmosphäre, Fluidum». Das Wort gilt als selten, aber ab 1980 verfünffacht sich die relative Häufigkeit, die mit einer Grafik angezeigt wird. Ab 2000 fällt die Kurve wieder ab. Dennoch hat die Umdeutung auch in der Schweiz überhandgenommen: Statt über den Röstigraben kommt die Inspiration über den Rhein.

Dass ein Wort beim Wandern eine veränderte oder zusätzliche Bedeutung annimmt, ist gar nicht so selten. Es hat keinen Sinn, dies als falsch zu brandmarken und mit der Kenntnis der Originalsprache aufzutrumpfen. «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache», erkannte der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Er fände heute reiches Anschauungs­material gerade bei Importen und Pseudoimporten, viele aus englischer Quelle. Auf Englisch heisst kein Ding Handy und am Public Viewing sieht man keinen Sport, sondern eine aufgebahrte Leiche. Das ändert freilich nichts am deutschen Sprachgebrauch. Wer ihn in solchen Fällen nicht mag, kann sich anders ausdrücken.

Manchmal verschiebt sich die Bedeutung auch bei der Über­nahme von Fachausdrücken in die Umgangsgssprache oder umgekehrt. Oder in beiden Richtungen: «déjà-vu» kann man auf Französisch im Alltag für irgendetwas sagen, das einem bekannt vorkommt oder, leicht abschätzig, «ja gar nicht neu» ist. In der Psychologie aber bezeichnet der Ausdruck eine «Erinnerungs­täuschung, bei der der Eindruck entsteht, gegenwärtig Erlebtes in gleicher Weise schon einmal erlebt zu haben» (duden.de). «Déjà-vu» ist in viele Sprachen über­nommen worden – wird indessen wohl häufiger für eine Erinnerung verwendet, die nicht täuscht: «Die Spitäler stehen vor einem Déjà-vu-Erlebnis», lautete eine Vorhersage des neuen Andrangs von Covid-Patienten.

Bei «Flair» ist der ursprüngliche französische Sinn so selten geworden, dass die Verwendung auch einmal danebengehen kann: «Warum die Taliban ein Flair für westliche Feministinnen haben» – das erfuhr man im Bericht unter diesem Titel dann doch nicht, denn es ging nicht um überraschende Einfühlsamkeit der Kriegs­islamisten, sondern nur um die Vermutung, sie freuten sich über feministische Argumente gegen ein Burkaverbot.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)