260: «Der Bund», 27. 12. 2019
War das Jahrzehnt dekadent, weil «Dekade»?
An Silvester wird nicht nur ein Jahr ausgeläutet, sondern ein Jahrzehnt – die Zehnerjahre sind dann vorbei. Rechenkünstler wurmt es, dass die so eingeteilten Jahrzehnte nicht in die Jahrhunderte passen. Die Nullerjahre begannen mit dem Jahr 2000, das noch ins 20. Jahrhundert gehörte: Erst an seinem Ende waren 20-mal 100 Jahre unserer Zeitrechnung vergangen. Die hatte nicht mit einem Jahr 0 angefangen, sondern mit dem – nachträglich (und falsch) berechneten – Jahr 1 nach Christi Geburt.
Die Zehnerjahre also verdächtige ich im Titel der Dekadenz, meine damit aber nicht eine allgemeine, obwohl Kulturpessimisten ausgiebig aufzählen könnten, was alles «verfallend» ist. In dieser Bedeutung ist das Wort «dekadent» aus mittelalterlichem Latein via Französisch zu uns gekommen, nachzulesen im Internet bei der deutschen Universität Vechta in der Rubrik «Jahr der Wörter». Mit der Dekade hat das gar nichts zu tun, obwohl Google meint, lateinisch «decadere» bedeute «Jahrzehnte». Die verdanken ihr modisches Fremdwort in Wirklichkeit dem griechischen «deka» für zehn.
Das Wort «Dekade» hat in den Zehnerjahren einen markanten Aufschwung genommen, wie die Pressedatenbank SMD belegt: Diese verzeichnete für 2010 erstmals über 1000 Artikel mit «Dekade», fürs ablaufende Jahr mit einem Endspurt erstmals über 2000. Die Zuwachsrate liegt deutlich über jener der jährlich erfassten Texte, doch reicht «Dekade» noch längst nicht an «Jahrzehnt» heran (55 000). Das Wort als Beleg für sprachliche Dekadenz zu nehmen, ist also stark übertrieben. So stark wie Wilhelm Grimms Klage: «Alle Tore sperrt man auf, um die ausländischen Geschöpfe herdenweise hereinzulassen. Das Korn unserer edlen Sprache liegt in Spreu und Wust.» (Bericht über das deutsche Wörterbuch, 1846). Dabei ging es u. a. um «Dezennium», also die lateinische Entsprechung von «Dekade». Zu Grimms Trost: Dieses Wort ist in der SMD unter die Hundertermarke gefallen – in den Nullerjahren, in denen das 21. Jahrhundert begann.
Wilhelm, der jüngere Bruder Jacob Grimms, störte sich nicht an sämtlichen Fremdwörtern; für seine Sprachwissenschaft fand er manche sogar unentbehrlich, denn: «Kann jemand bei ‹Befehl› an den grammatischen Imperativ denken, bei ‹Einzahl› an den Singularis, bei ‹Mittelwort› an das Partizipium, bei ‹Geschlechtswort› an Artikel? Ob wohl ein Pedant schon pedantisch genug gewesen ist, für das fremde Wort, das ihn allein genau bezeichnet, ein einheimisches zu erfinden? Einem Humorist wird es nicht in den Sinn kommen, sich zu übersetzen.» Letzterer ist inzwischen im Deutschen so heimisch geworden, dass der Wemfall «einem Humoristen» lautet – nicht nur nach Ansicht des Pedanten. Die Endung wegzulassen, ist hier dekadent.
Was Grimm auf die Palme trieb, war die wichtigtuerische Häufung von Fremdwörtern, die er unnötig fand: «Da liest man von ‹Amplifikationen, Kollektionen, Konstruktionen, Publikationen und Manipulationen›, da ist die Rede von ‹Divergenz, Retizenz, Omnipotenz, Kohärenz, Tendenz und Tendenzprozessen›, von ‹Lokalisierung›, von ‹nobler Natur› und ‹prolifiquer Behandlung›, von ‹sozialen Konglomeraten› oder von ‹futilem Raisonnement›.» Vor allem die Dosis machte das Gift; kam es damals aus dem Französischen, ist heute das Englische die Hauptquelle.
Auch das Wort «Dekade» dürfte seinen Aufschwung dem Englischen verdanken. Die Niederländer machen es anders; für sie ist «decennium» das übliche Wort, und sie verwenden es unbekümmert auch im Englischen, wo es rar ist. Im Deutschen aber bietet laut Grimm «die Muttersprache das natürlichste, eindringlichste Wort», eben «Jahrzehnt». Nicht ohne «Dekaden» kommt indessen die Astrologie aus, denn damit unterteilt sie die Monate in Zehntagesperioden. Und da es kein Datum 0 gibt, tut ausgerechnet sie es mathematisch korrekt: Die erste Dekade dauert vom 1. bis zum 10. Die dritte freilich ist nicht immer eine exakte.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)