Leute, wo meinen, das sei Hochdeutsch
Lange bevor Schulkinder in der Deutschschweiz lernen, was ein Relativpronomen ist, lernen sie, dass «wo» keines ist: «Meine Schwester, wo in den Kindergarten geht», geht nicht. Wer den Rhein Richtung Norden überquert, staunt vielleicht, dieses «wo» auch dort zu hören – übers alemannische Dialektgebiet hinaus und auch von Leuten, die nicht markant mundartlich reden.
Eine wissenschaftliche Erhebung (regionalsprache.de) bestätigt nun diesen Befund. Seit August 2018 werden die «lieben Deutschsprecher*innen» im Internet eingeladen, etwa 30 Fragen zu beantworten, meistens indem sie einen Satz vervollständigen. Den sollen sie in ihrer «vertrautesten Sprechweise» notieren oder ankreuzen. Zur Wahl stehen «Dialekt / Platt / Mundart», «regional gefärbte Alltagssprache / Umgangssprache» oder «Hochdeutsch» – nicht gemäss den Regeln definiert, sondern als «die Sprechweise, die im ganzen Bundesgebiet verstanden wird und die von den Nachrichtensprechern und -sprecherinnen im überregionalen Fernsehen und Radio gesprochen wird. Sie enthält keine regionalen Auffälligkeiten.» Bundesgebiet – na ja.
Bisher sind gut 3000 Fragebögen eingegangen, wenige auch aus Österreich (124) und der Schweiz (55). Das Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas hat erste Resultate veröffentlicht. So zeigen farbige Punkte auf einer Landkarte, mit welchem Pronomen «das Geld, … ich verdiene» versehen wird. Und siehe da: Im deutschen Bundesgebiet südlich des Mains taucht «wo» sogar bei Leuten auf, die Hochdeutsch als vertrauteste Sprechweise angeben. Häufiger und mit etwas mehr «wo» wird regionale Alltagssprache angegeben; seltener Dialekt, dafür im Südwesten meist mit «wo». Je weiter man aber vom Main nach Norden vorstösst, desto stärker wird die Hochdeutsch-Fraktion, auch wenn sie nicht selten sagt: «das Geld, was ich verdiene» – was auch dort kein Nachrichtensprecher sagen sollte.
Bei den Schweizer Antworten ist fast immer Dialekt als vertrauteste Sprechweise angegeben. Und bei der Frage nach «Geld, …» stehen lauter rote «Wo-Punkte», je für eine oder mehrere Antworten aus der Gegend. Nur in Zürich ist ein halber Punkt gelb – für «Gäld, das ich verdiene». So etwas hört man ja dort heutzutage tatsächlich. Selten beziehen sich Schweizer Antworten auf regionale Alltagssprache, also «die Sprechweise, die für eine Region typisch ist und eine regionale Färbung aufweist, aber von Aussenstehenden in der Regel verstanden werden kann». Ihre Vielfalt zu erforschen, ist das Ziel des Projekts.
Für die Schweiz ist das mit der Online-Umfrage kaum möglich, denn die Sprechweise, auf welche die Definition «regional» am ehesten zutrifft, ist Schweizer Hochdeutsch – das aber ist kaum jemandes Alltagssprache, und es entspricht in gepflegter Form auch der Hochdeutsch-Umschreibung der Umfrage, ebenso der Schulgrammatik, nur nicht in bühnendeutscher Lautung. Das Forschungsobjekt Regionalsprache ist in einem Kontinuum zwischen Dialekt und Standardsprache angesiedelt, das es im Schweizer Alltag kaum gibt. Im österreichischen schon, und so ist dort Regionalsprache der vorherrschende Antwortmodus – vielleicht auch nur, weil vielen das Selbstvertrauen fehlt, österreichisches Hochdeutsch als solches zu bezeichnen.
Wer an der Befragung teilnehmen will, kann mittlerweile drei Durchgänge mit unterschiedlichen Fragen absolvieren; zwei weitere Fragebögen sollen noch folgen. Man leistet damit nicht nur einen Beitrag zur Wissenschaft, sondern erfährt auch selber allerhand. Unter den vorgegebenen Antworten der dritten Staffel beispielsweise steht (neben Platz für eigene Varianten) auch «wir duzen sich hier». In welcher Gegend nicht nur «wir duzen uns hier» gebräuchlich ist, wird zu sehen sein, wenn dereinst alle Resultate aufgeschaltet sind. Bereits jetzt ist verzeichnet, wo sich «das Geld, wo …» noch überbieten lässt: Im östlichen Bayern gibt es auch «das Geld, das wo ich verdiene».
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)