«Der Bund», 22. 2. 2019

Die Sprache kehrt nicht zu Tarzan zurück

«Das, was man Aufbau nennt, kommt nur […] durch einen Verfall zu Stande, und das, was man Verfall nennt, ist nur die weitere Fortsetzung dieses Prozesses.» Diese fernöstlich anmutende Weisheit hat 1880 der deutsche Gelehrte Hermann Paul als eines seiner «Principien der Sprachgeschichte» aufgeführt – im Kontrast zum linearen europäischen Geschichtsbild, das in Bezug auf die Sprache fast immer in ein Lamento über deren Verfall mündet. Antworten auf die Frage, warum nach Jahrhunderten des angeblichen Niedergangs die (europäischen) Sprachen noch immer nicht zu unverständlichen «Grunzlauten» verkommen sind, hat der in England lehrende israelische Linguist Guy Deutscher gesucht.

Paul ist der früheste Vorläufer, den Deutscher für seine Kernthese zitiert: Neben dem augenfälligen Wandel, der vielen als Verfall vorkommt, erleben Sprachen laufend auch aufbauende Veränderungen, nur weniger offensichtliche. Sein 2005 auf Englisch erschienenes Buch war wohl überhaupt das erste, das diese Sichtweise einem breiteren Publikum darlegte. Unter dem originalnahen Titel «Die Evolution der Sprache. Wie die Menschheit zu ihrer grössten Erfindung kam» ist es jetzt bei C. H. Beck zum zweiten Mal auf Deutsch erschienen (2008 textgleich unter dem Titel «Du Jane, ich Goethe»).

Eine Sprachstruktur wie beim Film-Tarzan vermutet Deutscher in der Frühgeschichte, mit Wörtern für Personen, Dinge und Handlungen. Belegen lässt sich dieser Zustand natürlich nicht. Aber der Autor beginnt bei «Tarzan», um von diesem Stadium aus die mögliche Entwicklung komplexer Wort- und Satzformen zu erklären. So gelangt er zu heutigen Sprachen bzw. ihren klassischen Formen, die im verklärenden Rückblick als vollkommen erscheinen. Noch heute sind solche Mechanismen am Werk und gleichen durch Neubildungen aus, was an Komplexität verlorengeht, wenn sich etwa Beugungsformen abschleifen.

Das anschaulich geschriebene Buch enthält Beispiele aus vielen Sprachen und wahre Detektivgeschichten aus der Erforschung der Sprachgeschichte. Der Übersetzer Martin Pfeiffer ersetzt viele aus dem Englischen geschöpfte Darlegungen durch solche aus dem Deutschen, so beim Lautwandel. Geblieben ist als aktuelle englische Entwicklung etwa das Wort «gonna», oft als nachlässiges «going to» geschmäht, bei Deutscher aber als neue Art gewürdigt, Zukünftiges anzugeben. In einer als Dialog gehaltenen Passage lässt der Autor dazu einen fiktiven Fachkollegen erklären: «Wörter laufen [nicht mit] T-Shirts herum, auf denen ‹Substantiv› oder ‹Verb› steht» – die Wortart ergibt sich aus der Verwendung. Beispiele aus der Reform der deutschen Rechtschreibung wurden nicht aufgegriffen; angeboten hätten sich das neue Adverb «infrage» oder die Präposition «mithilfe».

Eingehend wird ein viel früherer Zusammenzug geschildert: Im Althochdeutschen «niowiht» ist «ni-eô-wiht» für «nicht ein Wesen» noch erkennbar, im heutigen «nicht» ist die Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten längst vollendet. Diese tritt häufig auf, aber nur in dieser Richtung: Metaphern erstarren, bis sie überhaupt nicht mehr bildlich wirken (bei «going to» mag man noch ans Schreiten denken, bei «gonna» kaum). Und so erwacht das Bedürfnis, dürre Wörter wieder auszuschmücken; der englische Zusatz «at all» wird genannt. «Nicht die Bohne» wäre ein deutsches Beispiel, vielleicht dereinst «nibohn».

Neben der Ökonomie (Abschleifen, Zusammenziehen) und der Expressivität (Ausschmücken) nennt Deutscher die Analogie als dritte Hauptkraft des Sprachwandels. Sie kann komplizierte Bildungen wie das semitische Verbsystem erklären, aber auch Details. So hat das dank einem Beatles-Film verbreitete «grotty» (aus «grotesque») zur Rückbildung «grot» für «Dreck(-Ware)» geführt. Auch da hätte sich ein Seitenblick ins Deutsche angeboten: «grottenschlecht» könnte entlehnt sein; es weist zudem auf den Ursprung von «grotesk» zurück. Sprache als Kreislauf: Die Idee hat ihren Reiz, im Kleinen wie im Grossen.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)