«Der Bund», 1.10.10

Von Bandwürmern im Bündnerfleisch

«Ein höherer Zollschutz gegenüber dem geltenden in der Tarifnummer 1602.5099 müsste aus heutiger Sicht in einem Dekonsolidierungsverfahren im Rahmen der WTO aufgrund der Forderungen der Hauptlieferländer durch Zollsenkungen in anderen Tarifnummern und/oder durch ein grösseres Zollkontingent für Rind- und Kalbfleisch kompensiert werden.» Da kapituliert selbst ein Bundesrat: Kaum hatte Hans-Rudolf Merz diesen Satz vorgelesen, bekannte er, dass er das Vorgelesene «bisweilen einfach nicht verstanden habe». Es ging um Bündnerfleisch, und die bundesrätlichen Ausführungen dazu sind mittlerweile dank dem Internet-Kanal Youtube weltberühmt geworden.

Die Heiterkeit, die Merz übermannte und die er damit verbreitete, ist wohlverdient. Ausgelöst wurde sie durch ein würziges Prachtstück Amtsdeutsch (nachzulesen unter tiny.cc/merz). Dabei gibt sich die Bundesverwaltung in der Regel redlich Mühe, das Klischee der umständlichen Beamtensprache Lügen zu strafen. Die «Schreibweisungen» der Bundeskanzlei (tiny.cc/weisungen) verlangen, für die «Adressatinnen und Adressaten» solle «der Text so verständlich wie möglich sein». Zur Abfassung bundesrätlicher Botschaften gibt es einen besonderen Leitfaden (an gleicher Stelle aufgeführt). Er enthält Sprachtipps wie jenen, «Bandwurmsätze» und «Substantivketten» zu vermeiden.

Im vorliegenden Fall haben nun nicht nur die Importeure von Trockenfleisch die Zollregeln strapaziert – das Gleiche taten bei den Sprachregeln auch jene Beamten, die sich mit der Rosstäuscherei befassen mussten. Kein Wunder, denn der tiefere Tarif für Gewürzfleisch lädt nicht nur dazu ein, stärker zollgeschütztes Trockenfleisch mit einem abwaschbaren Gewürzmantel zu tarnen, sondern auch dazu, diesen Vorgang sprachlich nachzuahmen.

Die im Finanzdepartement verfasste Antwort auf eine parlamentarische Anfrage verstösst, besonders im zitierten Satz, krass gegen das Verständlichkeitsgebot, auch wenn man im Parlament besonders verständige Leute vermutet. Es ist nicht nur ein Bandwurmsatz, sondern der Wurm ist auch noch verschlungen. Wolf Schneider, Autor von Sprachbüchern und früherer Leiter der Hamburger Journalistenschule, hat dazu eine nützliche Regel aufgestellt, sinngemäss: Ein Unterbruch im Lesefluss darf höchstens sechs Wörter umfassen.

Zwischen «Zollschutz» und «müsste» stehen just sechs Wörter (und eine Zahl, das mags leiden), aber dann dauert es geschlagene dreissig Wörter lang, bis wir erfahren, was denn geschehen müsste: «kompensiert werden». Und in diesen Wörtern sind mit Substantivketten ganze Nebensätze verpackt, die wir uns erst noch vorstellen müssen, statt dass sie sich zu erkennen gäben, indem sie mit Verben formuliert und mit Kommas abgetrennt wären. Zudem wird die Abkürzung WTO nicht erklärt, aber das Parlament kennt ja die Welthandelsorganisation (samt Dekonsolidierungsverfahren).

Wie hätte man die Verständlichkeit des Ganzen fördern können? Bandwürmer werden besser geniessbar, wenn man sie zerhackt, also mehrere Sätze daraus macht. Diese dürfen auch Nebensätze enthalten, aber bitte linear aufgebaut, nicht verschachtelt: Sie sollen den Hauptsatz nicht unterbrechen (oder höchstens mit sechs Wörtern). Beim zitierten Satz ginge beides recht einfach, und er würde nicht einmal länger, obwohl er zum besseren Verständnis nun eine Wiederholung enthält («der höhere Schutz»): «Höherer Zollschutz, als er nach Tarifnummer 1602.5099 gilt, verlangt aus heutiger Sicht ein Dekonsolidierungsverfahren im Rahmen der WTO. Wegen Forderungen der Hauptlieferländer müsste dabei der höhere Schutz kompensiert werden, durch tiefere Zölle in anderen Tarifnummern und/oder ein grösseres Zollkontingent für Rind- und Kalbfleisch.»

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)