«Der Bund», 20.8.10
Kann eine Katastrophe humanitär sein?
Was seit Jahren Syrien heimsucht, ist eine Katastrophe. Sie ist enorm – aber ist sie auch «humanitär», wie in solchen Fällen oft geschrieben wird? Es mag frivol erscheinen, in diesem Zusammenhang eine sprachliche Frage zu erörtern, aber auch dies kann den Blick dafür schärfen, was dort für eine Not herrscht und was daher nottut. «Humanitär» bedeutet laut dem Duden «menschenfreundlich, wohltätig». Dass eine Katastrophe das nicht sein kann, versteht sich von selbst. Derselbe Duden kennt aber auch die «humanitäre Katastrophe» als eine, «die eine grosse Zahl von Menschen trifft». Man könnte beifügen: «... und deren humanitäre Versorgung nötig macht» – aber welche Katastrophe tut das nicht?
Wie ist so etwas möglich: ein Eigenschaftswort, das beinahe sein eigenes Gegenteil bedeuten kann? Es kommt daher, dass Adjektive, treffender mit «Beiwort» verdeutscht, nicht nur Eigenschaften bezeichnen können. Oft betreffen sie eine Zugehörigkeit: So ist beispielsweise gelegentlich von «reformierter Ethik» zu lesen, obwohl jeweils niemand die Ethik reformiert hat. Oder nur nebenbei: Es geht dann um die Ethik der reformierten Kirche, und das ist im Zusammenhang so klar, dass sich wohl niemand beim Lesen den Kopf darüber zerbricht, welchen Reformationsbedarf denn die Ethik habe.
Ebenso sprach man einst von christlicher Seefahrt, obschon es dabei wahrscheinlich nicht besonders christlich zuging. Es war die von Christen betriebene, vielleicht auch zum Zweck des christlichen Missionierens. Und heute reden wir von den menschlichen Einflüssen aufs Klima, obwohl sie eher unmenschlich sind: Gemeint ist «menschengemacht». So kann man es sagen, wenn man Missverständnisse ganz sicher vermeiden will – aber wo sie nicht zu befürchten sind, reicht auch «menschlich». Beide Adjektive können ebenfalls auf Katastrophen zutreffen, aber da muss man unterscheiden, ob Menschen als Auslöser oder als Betroffene gemeint sind.
Über Klima wie Katastrophen berichtet zuweilen ein «diplomatischer Korrespondent», zum Beispiel bei Radio DRS. Ohne ihm diplomatische Qualitäten abzusprechen: Die sind mit der Funktionsbezeichnung nicht gemeint. Das Beiwort betrifft auch hier nicht eine Eigenschaft, sondern eine Eigenheit: Der Mann beschäftigt sich mit Diplomaten und deren Wirken. Das tut (oder tat ursprünglich) auch etwa die Zeitschrift «Le Monde diplomatique», und es tun das angelsächsische «diplomatic correspondents».
Von ihnen dürfte der Berufstitel entlehnt sein, wie auch die «humanitäre Katastrophe» aus dem Englischen kommt. Das ist nicht weiter schlimm, da sich der neue Wortgebrauch in diesen Fällen mit der herkömmlichen deutschen Bedeutung verträgt. Problematischer sind da schon die «sozialen Netzwerke», die sich im Internet breitmachen. Netzwerke dürfen sie sein: Anders als blosse Netze umfassen sie auch die Aktivität, die sich in der Vernetzung entfaltet. Aber sozial? Das Wort ist bei uns besetzt durch gesellschaftliche Umstände und den Umgang damit: sozial kann zum Beispiel ein Verhalten, eine Politik oder eine Institution sein. Die Netzwerke aber, um die es hier geht, sind ganz einfach gesellig. Nicht selber, aber sie dienen der Geselligkeit.
Manchmal fördern sie freilich auch soziale Bestrebungen: zum Beispiel, wenn in diesen Netzwerken humanitäre Hilfe mobilisiert wird. Die Humanitas, die solcher Hilfe zu Gevatter steht, diese Menschlichkeit ist auch gefragt, um die humanitäre Katastrophe in Syrien lindern zu helfen.
© Daniel Goldstein