«Der Bund», 25.6.10

Demut und Schöpfermut gegenüber Wanderwörtern

«Dheomodi» lautet das älteste schriftlich überlieferte deutsche Wort – «demütig» als Übersetzung des lateinischen «abrogans», das als erster Eintrag in einem Wörterbuch aus dem 8. Jahrhundert steht. Das Buch heisst deshalb Abrogans; eine Handschrift wird in der St. Galler Stiftsbibliothek aufbewahrt (Faksimile: liip.to/abrogans). Der Kölner Germanistik-Professor Karl-Heinz Göttert, der uns dies in seiner neuen «Biografie» der deutschen Sprache* berichtet, macht aus dem lexikalischen Zufall nicht gerade ein Programm der Demut. Aber sein Buch betont die Anleihen des Deutschen bei anderen Sprachen – sei es durch die Übernahme von Wörtern, sei es durchs Bemühen, sie mit deutschen Ausdrücken wiederzugeben.

«Deutsch» bezeichnete ursprünglich nicht die Sprache eines bestimmten Volks, sondern jene des Volks an sich, das die Franken «thiot» nannten. Diesem wollten Herrscher und Gelehrte die Bibel oder Gerichtsurteile näherbringen, indem sie sich – lateinisch gesagt – «thiotisce» ausdrückten. Daraus wurde erst später durch Verballhornung «teutonice», wir verdanken das Deutsche also nicht den Teutonen. Sondern einer Vielzahl von Völkerschaften, deren (sich wandelnde) Sprech- und dann Schreibweisen zum heutigen Deutsch zusammenwuchsen – zum Glück nicht restlos, aber in einem spannenden Prozess, den Göttert mit vielen Beispielen schildert.

Eine wichtige Rolle spielen dabei Wortschöpfer, angefangen beim unbekannten des Abrogans, der etwa «mihhilmuot» für Grossmut prägte («michel» war das Gegenteil von «lützel»). Es folgte um die Jahrtausendwende in St. Gallen Notker der Breitlippige (oder Deutsche) mit «notfolgunga» für «consequentia» oder «unspaltig» für «individuus». Durch Mystiker oder auch Kanzlisten des Hochmittelalters wuchs der schriftliche Wortschatz weiter, um bei Luther einen prägnanten Schub zu erfahren («Blutgeld, Feuereifer, Herzenslust», ja gar «Gottesaffe, Rotzlöffel»). Nicht alle Schöpfungen überdauerten; insgesamt meint Göttert für Übernahmen und Übersetzungen aus dem Latein: «Am Ende ist die deutsche Sprache reicher geworden, ohne ihr eigenes Gepräge aufgegeben zu haben.»

Später kamen die wichtigsten Einflüsse vom Französischen, das zeitweise nicht nur das höfische Deutsch in einem Masse «affectirte», das heute lächerlich wirkt. Für manche tat es das schon damals; Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen Reinhaltern und kosmopolitischen Erneuerern der deutschen Sprache verschärften sich. Auch Wortpräger wirkten weiter: Humanisten wie Fischart («himmelerdhöllig»), Aufklärer wie Leibniz («Beweisgrund»), die Klassiker Goethe («Felsenquell») und Schiller («Gedankenfreiheit»).

Im Weiteren war das 19. Jahrhundert für Göttert «in sprachlicher Hinsicht trostlos», und seither sind es eher Szenesprachen als Literaten, die Neuerungen beitragen. Doch in den Chor der Wehklagen über Anglizismen mag der Sprachbiograf nicht einstimmen: «Englisch ist das neue Latein», konstatiert er im Hinblick auf Universalität, aber auch Wortursprünge. Der Autor erklärt die gehäufte «Übernahme englischen Wortguts» teilweise mit dem «Entwicklungsstau, der im Purismus des 19. und (des) 20. Jahrhunderts wurzelt». Gemessen am Gesamtwortschatz bleibe der Zufluss aber gering, und zudem spiele «die dem Deutschen eigene Verarbeitung des Entlehnten eine ganz hervorragende Rolle».

Angesichts der Geschichte brauche man sich vor der sprachlichen Öffnung nicht zu fürchten, schliesst Göttert. Allerdings scheint mir, statt stets englische Prägungen zu übernehmen oder gar selber zu erfinden (Handy), könnten wir Deutschsprachigen uns auch vermehrt auf die Tradition der eigenen Wortschöpfung besinnen.

* Karl-Heinz Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache. Ullstein, Berlin 2010.

© Daniel Goldstein