«Der Bund», 30.4.10

Momentum mal!

Es ist gerade noch rechtzeitig von Genf nach Bern zurückgekehrt, das ominöse Ding, das neuerdings darüber entscheidet, wer in sportlichen Dauerwettbewerben am Schluss die Nase vorn hat: Das Momentum, das manche Sportjournalisten nach dem vorvor- und dem vorletzten Spiel der Eishockeymeisterschaft bei Servette geortet hatten, trug am Schluss den SCB zum Titel. Nur – was ist es? Deutet sein Ausflug in die Romandie darauf hin, dass es etwas mit «les mômes» zu tun hat, den «Gofen» also? Das Momen–tum als helfende Hand der (ungezogenen) Fans etwa?

Nicht doch! «Das Momentum ist das Gefühl, in einem entscheidenden Spiel oder in einer Serie auf einer Erfolgswelle zu surfen», war vor der «Finalissima» im «Bund» zu lesen. Ein Gefühl also – aber woher hat es seinen Namen? «Momentum, das; (lat.) gehoben für (richtiger, geeigneter) Augenblick», lehrt der Duden (noch). Der gehobene Moment war aber letzten Samstag für beide Mannschaften gleichermassen geeignet; die Suche muss weitergehen, «ad fontes», zu den lateinischen Quellen.

Mühlmann's altehrwürdiges «Lateinisch-deutsches Handwörterbuch» (36. Aufl. 1896) füllt mit «momentum» eine halbe Spalte, doch schon der erste Eintrag reicht: «die Kraft sich zu bewegen». Über die Physik und das Englische hat diese Bedeutung Eingang in die Welt des Sports gefunden; «the momentum» ist zunächst einmal der Impuls in der Physik. Auch im Deutschen gibt es das mechanische Moment; am besten ist es als Drehmoment bekannt. Nun leistet ihm «das Momentum» in einer neuen Bedeutung Gesellschaft.

Dass der neue Wortgebrauch englischer Herkunft ist, passt zum Zeitgeist (wenigstens der heisst auch auf Englisch zeitgeist). In der Tat reden die Angelsachsen gern vom momentum im sportlichen oder im politischen Wettbewerb. Im britischen Wahlkampf wird es derzeit den Liberalen zugeschrieben, und gemeint ist durchaus die «die Kraft sich zu bewegen», nämlich der Schwung, den die andern Parteien vermissen lassen und der auf die Wählerschaft zusätzlich attraktiv wirken soll. Ob der Parteichef und Impulsträger Clegg auch noch das Gefühl hat, «auf einer Erfolgswelle zu surfen», ist weniger wichtig – Hauptsache, er erweckt diesen Eindruck.

Offen ist noch die Frage, wo das Fussball-Momentum mit seiner Pendelbewegung zwischen Bern und Basel im entscheidenden Moment wirken wird. Spätestens in der letzten Runde wird eine der beiden Mannschaften das Momentum im älteren, gehobenen Sinn für sich nutzen: den günstigen Augenblick also. Wer diese Wortbedeutung vorzieht, wird ausweichen müssen, da das linguistische Momentum eindeutig beim sportlichen «Momentum» liegt. Es bietet sich, noch gehobener, «Kairos» an, der günstige Augenblick der Griechen. Mit der ägyptischen Hauptstadt hat das nichts zu tun, die heisst al-Qahira, die Siegreiche.

Das alles kann im Berner Café Kairo zusammenkommen, sofern YB den Kairos ergreift und (mit afrikanischer Torschützenhilfe) Bern zur sportlichen Doppelmeisterschaft verhilft, damit zum Momentum hoffentlich auch ausserhalb des Sports, und dies nicht nur auf der Gefühlsebene. Literarisch veranlagte Fans werden es nicht versäumen, den und das Moment im genannten Lokal zu feiern – gediegen, versteht sich, denn es sind ja keine «mômes».

© Daniel Goldstein