«Der Bund», 25. 4. 2015

Ein Stachel trifft den nervus helveticus

Mit dem Thema «geächtete Helvetismen» hat die «Sprachlupe» vor zwei Wochen einen Nerv getroffen, allerdings nur dank einem Umweg: Tags darauf berichtete – welch ein Zufall! – auch «20 Minuten» im Internet über die Masterarbeit, um die es ging. Diese zeigt, dass an manchen Schweizer Hochschulen Helvetismen – also hiesige Eigentümlichkeiten im Hochdeutsch – in schriftlichen Arbeiten verpönt sind. Manchmal steht das in Richtlinien, manchmal verlangt es das Lehrpersonal, insbesondere solches aus Deutschland.

Auf der Website von «20 Minuten» gingen Reaktionen zeitweise im Minutentakt ein; in den zwei Tagen, als die Leitung offen war, kamen so mehr als 700 Kommentare zusammen. Der beliebteste, gemessen an zustimmenden Klicks, war in Ton und Inhalt typisch für eine verbreitete Empörung. «Der Seher» meinte (in Originalschreibweise): «Also wenn es so sein sollte das Deutsche Professoren Helevetismen ablehnen, müsste ich denen Antworten: Meine Herren, wir sind hier in der Schweiz, wir sprechen verschiedene Dialekte und wenn ihr damit ein Problem habt, dann ist es eben euer Problem.»

Das Missverständnis, es gehe um Dialekt, tauchte mehrmals auf – und wurde mehrmals in anderen Kommentaren aufgeklärt. Auf Widerspruch stiessen auch die (zuweilen krass ausgedrückten) Ressentiments gegen Deutsche. «Der Minderwertigkeitskomplex mancher Schweizer kennt keine Grenzen und sie fühlen sich von allem und jedem angegriffen», schrieb etwa ein «G. Blendet». Willkommener Balsam waren Bemerkungen von Deutschen, die sich dazu bekannten, angebliche Helvetismen selber zu verwenden – zum Beispiel «realisieren» in der Bedeutung «erkennen» (und nicht nur «verwirklichen»).

Diese Wortverwendung steht im Duden, ohne geografische Einschränkung. Sie löste aber wiederholt Besserwisser-Duelle aus. Angefochten wurde auch der gängige Sinn von «Hochdeutsch» als normierter Schrift- und Sprechsprache, denn Linguisten verwenden den Begriff auch geografisch, als Gegenstück zum nördlichen Niederdeutsch. Etliche Kommentare rieben sich an der Tatsache, dass das Hoch- oder Standarddeutsch Varianten kennt. Zumindest wissenschaftliche Arbeiten, so forderte man, müssten doch einheitlich abgefasst sein, damit sie überall verstanden würden.

Um eventuell unverständliche, dialektnahe Helvetismen ging es allerdings in den zitierten Uni-Vorschriften meistens nicht, sondern um Wortformen wie «Unterbruch» statt «Unterbrechung». Ob ein Wort im ganzen deutschen Sprachgebiet verstanden wird, ist freilich nicht immer einfach festzustellen. «Bruno» wünscht sich: «Es wäre interessant zu wissen, welche Wörter sind Standard und welche sind eher regional. Meine Vorschläge: bitte ja: Fördern des Wissen, was was ist – bitte ja: alles Regionale zulassen, wenn es verständlich ist – bitte nicht: Sprachpurismus – bitte nicht: Sprachpatriotismus.» Ein Tipp: Der Duden hilft. Dort verzeichnete Helvetismen sind nun auch am Institut für Theaterwissenschaften (Universität Bern) genehm, dessen Richtlinien im Zentrum der Kontroverse standen. Es hat den Helvetismen-Bann ersatzlos gestrichen; verpönt bleibt «Umgangssprache».

Etliche Stimmen wunderten sich über die Aufregung, die «20 Minuten» zum weitaus meistdiskutierten Thema des Wochenendes verholfen hatte. «Maki» bekam fast das letzte Wort: «amüsant wie sich hier diverse personen so aufregen.. frage mich, wie viele von hier im alltag wissenschaftliche arbeiten oder dergleichen erstellen müssen und dadurch wirklich davon betroffen sind..». Freilich hat die Diskussion gezeigt, dass das Thema Helvetismen nicht nur im Wissenschaftsbetrieb Wellen wirft. Was für ein Hochdeutsch sollen etwa die Schulen unterrichten, die Medien verwenden? Mein Vorschlag: eines, das die Zugehörigkeit zum deutschen Sprachraum nicht verleugnet, aber auch die schweizerischen Eigenheiten nicht. Und eines, das von allen verstanden wird, an die es sich richtet.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)