«Der Bund», 10. 4. 2015
Helvetismen: Kein Grund für Theater
Geht im Theater das Licht aus, so bedeutet das in der Regel eine Unterbrechung. Der Unterbruch der Aufführung dauert dann, bis die Panne behoben ist. Die Wortformen mit und ohne «-ung» erlauben es, zwischen Ereignis und Ergebnis zu unterscheiden. Das ist in diesem Fall nur in der Schweiz üblich, und meistens achtet man nicht darauf, die genau passende Form zu wählen. Für den Duden steht «Unterbruch» denn auch einfach «schweizerisch neben Unterbrechung». Dagegen weiss das Wörterbuch zwischen dem Vorgang der Unterscheidung und dem festgestellten Unterschied durchaus zu unterscheiden – zwar nicht konsequent, aber wenigstens ohne geographische Einschränkung.
Man braucht sich nicht unbedingt um derlei Finessen zu kümmern – verstanden wird man auch, wenn man diese ähnlichen Wörter unterschiedslos benützt. Aber einer wissenschaftlichen Arbeit über die Theaterkunst stünde Differenzierung gut an: Im Moment der Unterbrechung ist auf der Bühne Geistesgegenwart gefragt, danach Improvisationsgabe, wenn während des Stromunterbruchs trotzdem gespielt werden soll. Aber wehe, wenn in einer Arbeit am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern das Wort «Unterbruch» auftauchte! Das gälte als Fehler.
In den Richtlinien des Instituts steht: «Helvetismen sind durch hochdeutsche Formulierungen zu ersetzen, z. B. ‹auf der anderen Seite› statt ‹handkehrum›, ‹Entscheidung› statt ‹Entscheid›, ‹Unterbrechung› statt ‹Unterbruch›, ‹erkennen› statt ‹realisieren›.»* Aus dieser Liste spricht reine sprachpolizeiliche Willkür, und «z. B.» bedeutet eine Einladung, weitere Wörter als Helvetismen zu ächten. All die ausdrücklich verpönten Wörter stehen im Duden; als «schweizerisch» sind nur «handkehrum» und «Unterschied» markiert. Und auch in diesen Fällen steht nicht etwa «mundartlich», was ein Grund wäre, in einem hochdeutschen Text darauf zu verzichten, wenn keine Mundartnähe beabsichtigt ist.
Der Duden kennt viele weitere regionale Zuordnungen, auch innerhalb Deutschlands. Dass er sie verwendet, bedeutet keineswegs, dass die entsprechenden Wörter nicht hochdeutsch wären. Regionale Varianten aufzunehmen, entspricht vielmehr der heute kaum noch bestrittenen sprachwissenschaftlichen Erkenntnis, dass Deutsch eine plurizentrische Sprache ist, dass es also kein einheitlich und exklusiv «richtiges» Deutsch gibt. Wollte man ausgerechnet der Wissenschaft so ein Einheitsdeutsch vorschreiben, so müsste man sämtliche nur regional verwendeten Wörter verbieten und so die Ausdrucksmöglichkeiten drastisch einschränken.
Natürlich sollten wissenschaftliche Werke überall im deutschen Sprachraum verstanden werden; nur schon, damit nicht als Nächstes die Abfassung in «einheitlichem» Englisch vorgeschrieben wird. Auf der Liste des Berner Instituts ist «handkehrum» das einzige Wort, das manchenorts auf Unverständnis stossen dürfte und daher fehl am Platz wäre. Doch die Verständlichkeit scheint nicht die Hauptsorge der akademischen Sprachwächter zu sein. In ihrer Masterarbeit an der Universität Bern hat Stefanie Wyss soeben aufgezeigt, dass an verschiedenen Schweizer Hochschulen die Ansicht verbreitet ist, «dass es so etwas wie eine einheitliche deutsche Wissenschaftssprache gibt». Und dass diese Sprache – gefördert auch durch deutsches Personal – jene ist, die in Deutschland verwendet wird. «Wo genau?», möchte man da fragen.
So werden Helvetismen – nochmals: es geht nicht um Dialekt – auch in anderen universitären Wegleitungen geächtet. Mit der Frage, was denn damit gemeint sei, werden die Studierenden meist allein gelassen. Sinnvoller und wissenschaftsgerechter wäre es, sie nach «erlaubten» Helvetismen suchen zu lassen – im Duden und in dessen Spezialband «Schweizerhochdeutsch». Und dann noch auf die Verständlichkeit zu achten.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)
* Fassung 2012, Pt. 5.9, in Neufassungen ab 2015 ersatzlos gestrichen.