«Der Bund», 20. 3. 2015
Die Welt per Brille und Vorstellung
«Schau dir dieses Panorama an», sagt auf dem Plakat der Gornergratbahn er zu ihr, oder umgekehrt. Beide lächeln bloss, und vor allem: Beide kehren dem Panorama den Rücken zu. Sie sehen es höchstens auf dem Bildschirm des Telefons, wenn dieses so eingerichtet ist, dass man beim Egoknipsen sich und den Hintergrund sieht. Die Werbung ist also nicht nur überaus zeitgemäss, sondern geradezu tiefschürfend in ihrer Aussage über den Zeitgeist.
Als real wird nämlich in zunehmendem Mass das empfunden, was in medialer Wiedergabe zu sehen ist, und sei es nur auf einem Selfie. Die Erscheinung ist nicht ganz neu: Es muss 1968 gewesen sein, als ein Knirps mit seinen Eltern erstmals in eine deutsche Grossstadt kam, wo vor dem Bahnhof gerade eine ruppige Demonstration ablief: «Guck mal, da werden die Nachrichten gemacht!», rief er aus. Man kann auch noch weiter zurückblenden: «Die ganze Welt ist Bühne», liess William Shakespeare 1600 eine Figur in «Wie es euch gefällt» sagen, um das Leben als Schauspiel darzustellen.
Jüngeren Datums aber ist die Tendenz, zum Reden über die Realität Ausdrücke zu verwenden, die sich eigentlich auf die mediale Darstellung beziehen. «Live» berichten Medien dann, wenn sie vom Ort des Geschehens aus ohne Verzögerung Töne, Bilder, Beschreibungen oder eine Kombination davon verbreiten. «Direkt» nannte man das, als man noch betonen wollte, dass es sich um eine Übertragung handelte, nicht um das Ereignis selber.
Heute aber kann sich «live» nicht nur auf die Berichterstattung beziehen, sondern auch auf den eigentlich banalen Umstand, dass ein Ereignis unter Beteiligung der Beteiligten stattfindet. So kann man etwa in den Nachrichten hören, Zehntausende hätten «live auf dem Petersplatz» eine Papstmesse verfolgt. Wie hätten die Leute denn sonst auf dem Petersplatz sein können, wenn nicht «live»? Aber der Online-Duden bestätigt die neue, zusätzliche Bedeutung des Worts: «in natura, in realer Anwesenheit, körperlich/konkret vorhanden, leibhaftig; (bildungssprachlich) in persona; (umgangssprachlich) zum Anfassen».
Weshalb muss die Realität einer Anwesenheit oder eines Vorgangs mit «live» (und gern auch noch mit «vor Ort») bestätigt werden? Vermutlich deshalb, weil man sich an Leute richtet, deren Erfahrungswelt stark von den Medien geprägt ist: Schon für das Kind von 1968 war die Welt das, was es in den Fernsehnachrichten erblickt hatte. Heute gilt diese Medienvermutung noch viel stärker, also die Annahme, die Welt werde in erster Linie als Gegenstand der Abbildung verstanden, ja mit der Abbildung verwechselt.
Wenn ausnahmsweise doch einmal von der unmittelbaren Wahrnehmung die Rede ist, dann muss man das mit «live» klarstellen. Aber nicht einmal dann darf man seinen Augen noch trauen: Zwar stellte ein Autobauer an der letzten Los Angeles Auto Show ein durchaus leibhaftiges Modell des Chaparral 2X Vision vor – aber das Auto soll nicht draussen herumfahren, sondern im Computerspiel Gran Turismo, also in einer virtuellen Realität.
Um noch zwei Jahrtausende hinter Shakespeare zurückzugreifen: In Platons Höhlengleichnis wird der Mensch als Wesen dargestellt, das nicht die eigentliche Wirklichkeit wahrnimmt und nicht einmal deren Darstellung als Figurentheater, sondern nur die Schatten, die diese Figuren werfen. Der Weg der Erkenntnis wäre es, aus der Höhle aufzusteigen und zuerst die Figuren, dann die Menschen dahinter wahrzunehmen. Weit von diesem Aufstieg entfernt, haben wir uns tiefer in die Höhle verkrochen und pflegen nicht einmal mehr das Schattenspiel für die Realität zu halten, sondern dessen Fernsehbild – bestenfalls live und sonst halt nur virtuell.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)