«Der Bund», 6. 3.  2015

Lust und Last des Missverständnisses

«Ein Papst, der gerne missverstanden wird» – so lautete ein Titel im «Bund». Hatte jemand den Pontifex gefragt, ob es ihm Freude bereite, missverstanden zu werden? Natürlich nicht, und gerade weil diese Freude so absurd wäre, wurde der Titel auch nicht missverstanden, sondern so, wie er im «Tages-Anzeiger» lautete: «Ein Papst, der leicht missverstanden wird». Das ist ebenfalls nicht ganz unverfänglich – aber auf die Idee, es könnten leichte und nicht schwere Missverständnisse gemeint sein, kamen wohl nur wenige.

Die Beispiele liessen sich leicht vermehren, zum Beispiel um jenes des Sektenführers, «der in den Medien gern als Sex-Guru betitelt wird», was ihm ja vielleicht wirklich gefällt. «Gern» – mit «begehren» verwandt – ist nur eines von unzähligen Wörtern, die neben ihrer angestammten Bedeutung noch eine weitere, übertragene angenommen haben. So kann man sich einen Spass daraus machen, sie misszuverstehen. Der Online-Duden nennt für «gern» als erste Bedeutung «mit freudiger Bereitwilligkeit, Vergnügen»; weiter kann man mit dem Wort einen Wunsch höflich ausdrücken oder entgegennehmen, und schliesslich bedeutet es umgangssprachlich «leicht[er], (verhältnismässig) schnell».

Manche Leute ärgern sich über solche Mehrdeutigkeiten. Auf den Titel «Lawine im Wallis fordert vier Todesopfer» reagierte eine Leserin so: «Eine Forderung ist doch ein Rechtsanspruch. Hat die Lawine das?» Auch da: natürlich nicht. Hier geht es nicht um die Grundbedeutung «Anspruch erheben, verlangen», sondern um die übertragene Bedeutung, wie im Duden-Beispiel «das Unglück forderte drei Menschenleben». Das kann man unpassend finden und selber nicht verwenden; falsch ist es indessen nicht.

Ein anderer Leser stört sich, nicht als Erster, an der Wendung «über die Ufer treten», weil Wasser doch nicht treten könne, sondern etwa fliessen oder schwemmen. Dass bei Duden auch der Schweiss auf die Stirne und sogar die Sonne hinter die Wolken treten kann, alles ohne Füsse, würde diesen Leser nicht besänftigen, eher in seiner Meinung bestärken: «Der Duden ist doch schon weit weg vom ursprünglichen Sinn der Worte»; Sprache aber gründe «gewiss nicht auf den akademischen Normen, sondern eher auf der Entwicklung des 1. und 2. Sektors (Urproduktion und Handwerk)».

Freilich hat es keinen Sinn, einer «unverfälschten» Ursprache nachzutrauern; die hat es weder im Paradies noch vor dem Turmbau zu Babel gegeben. Schon die Jäger und Sammler mussten sich nicht nur Namen für ihre Beeren und Beutetiere einfallen lassen, sondern auch Bezeichnungen dafür, ob es an einem Ort viele oder wenige davon gab – oder nichts (ein Wort, in dem «Wicht» steckt, woran heute kaum jemand denkt, geschweige denn Anstoss nimmt). Die meisten abstrakten Wörter sind Metaphern, sie beruhen also auf einer Sinnübertragung.

«Akademisch» wurde dieser Vorgang erst in der neueren Menschheitsgeschichte, so im Altertum oder bei der Übertragung altgriechischer und lateinischer Wörter in moderne Sprachen. Dabei haben sich etwa Niederländer mehr einfallen lassen als Deutsche, so «beginsel» («Beginnsel») für Prinzip oder «voorwerp» («Vorwerf[sel]») für Objekt. Da werde doch nichts geworfen, könnte der Purist dem Wort entgegenhalten, auch dem lateinischen. Doch der «akademische» Duden wäre der falsche Adressat. Der hält Wörter fest, die er im Sprachgebrauch vorfindet. Wer sich bei abstrakt verwendeten Wörtern noch zu stark an die konkrete Bedeutung erinnert fühlt, kann mühsam nach Alternativen suchen – oder einfach schmunzeln. Als kürzlich herumgeboten wurde, wie gross ein Penis im Durchschnitt sei (oder gar «im Schnitt»), lag ein blutiges Missverständnis auf der Hand.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)