«Der Bund», 17. 10.  2014

Wir können alles, sogar Hochdeutsch

«Wir können alles. Ausser Hochdeutsch.» Das wäre auch für uns Deutschschweizer ein passender, selbstironischer Werbespruch. Nur schade, sind uns die Schwaben zuvorgekommen und betrieben damit seit Jahren Standortwerbung für Baden-Württemberg. Natürlich können auch sie Hochdeutsch, wenngleich vielleicht nicht jenes, das gewissen Puristen vorschweben mag. Aber es gibt weder für den schriftlichen Ausdruck noch für die Aussprache eine einzige, verbindlich festgelegte Form der deutschen Sprache.

In manchen Köpfen schwingt bei der Bezeichnung «Hochdeutsch» die Vorstellung mit, da sei etwas Höheres, ja Erhabenes gemeint, das zu beherrschen den Sprecher oder die Schreiberin gewissermassen adle. Dabei geht es «nur» um Sprachformen, die im ganzen deutschen Sprachgebiet verstanden werden können. Darum bemühte sich – wohl als Erster bewusst – Luther bei seiner Bibelübersetzung, für die er durchaus nicht einfach seine mitteldeutsche Mundart verwendete.

Sprachwissenschafter verwenden von Nord nach Süd die geografische Einteilung in nieder-, mittel- und oberdeutsche Mundarten und fassen die beiden Letzteren unter dem Begriff «Hochdeutsch» zusammen. In diesem Sinn, und das gibt dem Werbespruch eine zusätzliche ironische Note, saugen Schwaben (und Schweizer) Hochdeutsch schon mit der Muttermilch ein. Schwer tun sie sich nur, wegen der geografischen Randlage, mit dem «andern» Hochdeutsch – besonders weil die Ansicht weit verbreitet ist, gemeinsames Deutsch sei in nördlich geprägter Aussprache besonders korrekt.

Linguisten vermeiden geografische Verwirrung und elitäres Gehabe, indem sie heute das «allgemeine» Deutsch nicht mehr als Hoch-, sondern als Standardsprache bezeichnen. Doch damit entsteht schon gleich das nächste Missverständnis, denn landläufig verbindet man mit «Standard» etwas genau und verbindlich Normiertes. Nun gibt es mit den Regeln und dem Wörterverzeichnis des Rats für deutsche Rechtschreibung tatsächlich eine solche Norm. Nur umfasst sie weder Wortschatz noch Grammatik in voller Breite, und sie enthält Varianten, zwischen denen man wählen kann, ohne den Boden der amtlich besiegelten Richtigkeit zu verlassen.

Eine Variantengrammatik ist, wie an dieser Stelle im August geschildert, im Entstehen. Sie stützt sich auf Zeitungstexte – in der Annahme, diese entsprängen der Absicht, «Standardsprache zu produzieren». Dagegen steht im «Ersten Bericht zur Lage der deutschen Sprache» (De Gruyter 2013): «Es besteht keine Berechtigung, aus einer repräsentativen Mischung von Pressetexten auf ‹das geschriebene Standarddeutsche› zu schliessen.» Für den Bericht wurden daher auch literarische, wissenschaftliche und praxisbezogene Texte beigezogen. In feiner geografischer Einteilung liegen indessen erst Sammlungen von Presseartikeln vor. Gemeinsam ist dem Bericht und der Variantengrammatik, dass sie mit grossen Textsammlungen, Korpora genannt, arbeiten und alles, was mit einer bestimmten Häufigkeit vorkommt, dem Standard zurechnen.

Die Wissenschaft in Ehren, aber wer sich mit «Standarddeutsch» nicht anfreunden kann, darf getrost weiterhin «Hochdeutsch» sagen. Auch das gute alte «Schriftdeutsch» braucht man nicht auszumustern – man darf nur nicht in der Meinung verharren, es sei bloss zum Schreiben da. Es gibt nun einmal Situationen, wo es auch im Gespräch zur Verständigung nötig ist, sei es mit Ausländern oder mit Miteidgenossen, die beflissen Schuldeutsch gelernt haben. Ob man es dann Hoch-, Schrift- oder Standarddeutsch nennen will, ob man es können will oder nicht – reden muss man es, im Minimum mit der Note «gibt sich und hat Mühe».

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)