«Der Bund», 5.2.10
So lesen uns Deutsche gern
Die Mär, Deutsche würden in der Schweiz nicht mit offenen Armen aufgenommen, muss von einem Analphabeten in die Welt gesetzt worden sein, oder wenigstens von einem Zeitungsmuffel. Denn wer hiesige Gazetten liest, hats schon lange vor der Freizügigkeit bemerkt: Unsere Presse tut alles, damit sich deutsche Leserinnen und Leser wie zu Hause fühlen. Wir sind vor Ort (also zur Stelle), wenn Leute zum Rauchen nach draussen gehen (hinausgehen), weil sie das Rauchverbot in der Kneipe (Beiz) dazu zwingt. Und wir rapportieren, wenn sie zwischen zwei Lungenzügen jammern, das neue Gesetz lasse sie aussen vor (schliesse sie aus). Nein, nicht «lasse»: Wir setzten in der indirekten Rede den Konjunktiv II, «liesse» – als obs das Gesetz gar noch nicht gäbe.
Wir halten diese Abschaffung des Konjunktivs I für besonders gutes Hochdeutsch, obwohl der Sprachdoyen Wolf Schneider vor einigen Jahren die Schweizer dafür lobte, anders als seine Landsleute wüssten sie noch zwischen den beiden Formen des Konjunktivs zu unterscheiden. Eigentlich hilft uns die Mundart dabei, sofern uns der Schnabel noch richtig gewachsen ist: «Er hät gsäit, er lösi der Bart la schta» gibt die Aussage eines entschlossenen Aargauer Bartträgers wieder, er lasse das Rasieren bleiben. Fällt die Zierde aber einer Wette zum Opfer: «... er liess der Bart la schta, wenn er nid verlore hett», oder auf Hochdeutsch: «... er liesse den Bart stehen, wenn ...».
Statt uns sprachlich anzubiedern, sollten wir der deutschen Leserschaft das bieten, was wenigstens ihr sprachbewusster Teil in der Schweiz ganz besonders schätzt: die Gelegenheit, helvetische Besonderheiten kennenzulernen. Wir brauchen sie dazu nicht gleich mit Mundartausdrücken zu überfallen. Das Schriftdeutsche umfasst fürs Erste genug (auch vom Duden vermerkte) schweizerische Varianten. Manchmal tragen diese sogar nostalgische Züge: Ein Norddeutscher erzählte mir, «Trottoir» erinnere ihn an seine Grosseltern, die das Wort noch anstelle von «Bürgersteig» verwandt hätten.
Ob sie auch «Perron» sagten, weiss ich nicht – aber Zugewanderte sind sicher dankbar, wenn ihnen diese Bezeichnung schon begegnet ist, bevor sie den Bahnsteig suchen und womöglich den Zug verpassen. Müssen sie zu einer Sitzung fahren, so werden sie von selbst merken, dass mit «Traktandenliste» die Tagesordnung gemeint ist. Brauchts zuvor einen Besuch beim Coiffeur, sollten sie nicht noch lange einen Frisör suchen, und haben sie doch das Auto genommen, so ist es schneller parkiert, wenn keine Missverständnisse mit «parken» passieren.
Um den aus Norden Zugezogenen eine besondere Freude zu machen, lassen wir ab und zu einen Diminutiv auf «-li» enden, besonders wenn das Hochdeutsche keine exakte Entsprechung kennt. Auf der Traktandenliste darf statt «fest zugeteilte, regelmässig wiederkehrende Aufgaben» ruhig «Ärbetli» stehen. Unbedingt zu verhüten sind indessen die in Deutschland oft zitierten «Verhüterlis», die es bei uns wirklich nicht gibt. Und ein Schluss-S im Plural hätten sie ohnehin nicht.
© Daniel Goldstein