«Der Bund», 27.11.09

Wenn der Spaten als längerer Hebel sticht

Früher, da taten noch gut betuchte Herren den ersten Spatenstich. Und das, nachdem sie das Bauprojekt durchgedrückt hatten, weil sie am längeren Hebelarm sassen. Heute sind sie nur noch betucht*, dafür sind auch Damen dabei, besonders oft im Kanton Bern. Sie sitzen nur noch am längeren Hebel, und sie begnügen sich mit dem Spatenstich. Was ist da verloren gegangen? Und ist es wirklich ein Verlust?

«Gut betucht» waren die besseren Herrschaften; andere Leute waren offenbar nur betucht. Und heute, so müssen wir annehmen, sind sie nicht einmal mehr das, sondern gehen in Klamotten, die den Ehrentitel «Tuch» nicht verdienen. Ein Blick auf die Schuhe lässt allerdings zweifeln, ob früher alle betucht oder eben beschuht waren. Im Volkslied trug der Milchbueb keine Schuhe, nur sein Gegenbild hatte «Strümpf und Schue». Was meine sozialkämpferische Grossmutter jeweils auf die Palme trieb. Vielleicht deswegen singen die Kinder heute «... oder träg er Ratsherr-Schue», so dass wenigstens offen bleibt, was der Milchbueb an den Füssen hat.

Ähnlich beim Spatenstich: Einst gabs den ersten von vielen, heute tritt gleich nach dem symbolischen Spatenstich anderes Gerät in Aktion, und wiederum im Kanton Bern lassen die Betuchten die Maschinerie schon für den bildwirksamen Eröffnungsakt gern anspringen. Die Redewendungen «betucht» und «Spatenstich» sind auch ohne «gut» und «erster» als symbolisch zu erkennen.

Als nächstes ist wohl die Erste Hilfe dran: Wenn ohnehin nur noch die (rar gewordenen) Samariter helfen, reicht es, von Hilfe zu reden – und alle wissen, dass da jemand Notversorgung erhielt, bevor die professionellen Gesundheitsdienstleister in Aktion traten.

In der Kürze liegt die Würze – das gilt auch für sprachliche Prägungen. Allerdings gehen dabei Färbungen verloren; das Tuch und der Spaten sind ohne das Adjektiv doch etwas alltäglicher. Man mag das bedauern, aber gegen die Kraft des Sprachgebrauchs ist kaum ein Kraut gewachsen.

Schon gar nicht jenes der Physik, die für den «längeren Hebelarm» spräche. Denn das Hebelgesetz gilt nur für jeweils einen einzigen Hebel, der auf einem Drehpunkt ruht: Dann kommt es auf Länge und Belastung der beiden Arme an, etwa bei einer Wippe, die verschieden schwere Kinder im Gleichgewicht halten wollen. Der «längere Hebel» aber lässt an eine Einrichtung mit mehreren Hebeln denken, und da wäre es naiv, vom längeren einfach die stärkere Wirkung zu erwarten.

Vollends auf eine falsche Fährte gelangt, wer beim Hebel an die wunderbare Szene aus dem Beatles-Film «Yellow Submarine» denkt, als sich Ringo Starr zum Ziehen am rätselhaften «lever» vordrängt – mit dem unschlagbaren Liverpooler Argument, er sei ein «born lever puller». Was Kalauer betrifft, ist das Englische wirklich unersetzlich.

Aber das ist ein anderes Thema. Freuen wir uns an den Redewendungen, die noch deutsch sind, und reden wir unbeirrt vom «längeren Hebelarm» – im Bewusstsein, dass jene, die ihn sprachlich verkürzen wollen, am längeren Hebel sitzen.

Daniel Goldstein

© «Der Bund»

* Diese Verkürzung ist freilich auch eine Rückkehr zu den Quellen, denn «betucht» stammt laut Duden.de und Etymologie.info vom hebräischen «betuach» für «sicher», auf Jiddisch auch «wohlhabend». Erst mit der falschen, volkstümlichen Herleitung von «Tuch» kam wohl «gut» dazu.