«Der Bund», 13.11.09

Für «Lesewese»: Lob des Notbehelfs

Unsere Leserinnen kommen nicht zur Ruhe, jedenfalls einzelne von ihnen. Auf die «Sprachlupe» zu den Plakaten «für Leser» gabs zwar keine Reaktionen, aber inzwischen hat die Radio-Werbung Anstoss erregt: «Der Bund ist nicht für alle, sondern für Leser.» Man kann an solchen Formulierungen herumschrauben, soviel man will, und in der Zeitung tun wirs oft – aber alles Ausweichen auf geschlechtsneutrale Wörter wie «Leute», alle Doppelnennungen von Männlein und Weiblein, alles abzählende Abwechseln zwischen ihnen ändert nichts daran, dass in der deutschen Sprache die männliche Form das «Dingwort der handelnden Person» bildet (nomen actoris, wie schon die alten Römer diskriminierten).

Die weibliche Form lassen wir mangels göttlicher Kräfte nicht aus einer Rippe entstehen, sondern wir setzen dem ganzen Manne noch eins drauf: Leserin. Dieselbe mag auf den Mehrwert der Nachsilbe stolz sein, aber diese weibliche Wortform müsste sie doch immer auch daran erinnern, dass sie sprachlich aus dem Manne hervorgegangen ist – egal, wie das mit der Rippe wirklich war (es fehlt ja keine). Ob es die Emanzipation fördert, die sprachliche Erbsünde noch und noch in Erinnerung zu rufen, ist doch eher fraglich.

Ebenso fraglich ist, ob eine Änderung des sprachlichen Seins das gesellschaftliche Bewusstsein umschulen hilft. Aber wenn man den Versuch dazu wagen wollte – «man» ist übrigens nicht ein Mann minus Rippe, sondern ein Mensch –, man müsste die Sache dann nicht unbeholfen mit «Innen-Ausbau» angehen, sondern radikal. Somit bei der Wurzel ansetzend, bei der Wortwurzel. Vor Jahren hat das der frühere «Bund»-Mitarbeiter für Süddeutschland versucht: Günter Pflaum prägte das neutrale «dos Lesero», um ein lesendes Wesen unbestimmten Geschlechts zu bezeichnen. Daneben sollten «der Leser» und «die Leserin» weiterleben.

Um nun auch noch das südländisch-maskuline O und vor allem die umgepolte «-erin» zu vermeiden, wandeln wir Pflaums Vorschlag ab: «Das Lesewes», Mehrzahl «die Lesewese», ist beliebigen Geschlechts. «Das Lesewesen» ist ja leider schon besetzt (im Wörterbuch: «selten für Leserei, Lesebelange»). Aus «Lesewes» leiten sich nun «der Leseweser» und «die Lesewesin» zwanglos ab. Nur: funktionieren wird das nie. Die Sprache ist ein gewachsenes Wesen, und sie wächst zwar weiter, aber nie so, wie es sich jemand am Schreibtisch ausdenkt.

Wir werden also weiterhin mit allerhand Notbehelfen kutschieren, um weder der Sprache noch ihren Freundinnen Gewalt anzutun. Und wir werden aufpassen, dass sich keine Schlingelinnen erlauben, Gästinnen oder Mitgliederinnen zu verulken. Für den Radiospot schliesslich hat man eine elegante Lösung gefunden: Er wird frühzeitig pensioniert.

Daniel Goldstein

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