«Der Bund», 30.10.09

Für Leserinnen: «Etwas zum Lesen»

Die dicke Brille schien jeden Zweifel zu zerstreuen: «Für Leser» wurde da auf den 15. Oktober etwas angekündigt, und Leserinnen hatten keinerlei Grund, sich mitgemeint zu fühlen. Doch als dann der neu gestaltete «Bund» da war, prangten auf Plakatwänden auch weibliche Lesewesen mit dieser Lesebrille. Indes, wo kein Bild dabei war, blieb der Slogan männlich oder eben mitmeinend. Klar, dass nicht bei allen Leserinnen gut ankam, was die Werbeagentur vermeintlich so schlau eingefädelt hatte: das Spiel mit den Geschlechtererwartungen.

In einem Leserbrief (ja, Leserinnen mitgemeint) stand etwa: «Als langjährige Abonnentin kann ich kaum glauben, dass der diesbezüglich sonst meist korrekte ‹Bund› ausgerechnet bei der Eigenwerbung sprachlich in graue Vorzeiten zurückfällt und im Inserat ‹Für Leser› schreibt! Als Frau und Leserin fühle ich mich so nicht angesprochen, und ich will in dieser Form auch nicht mitgemeint sein! Wieso nicht ‹Für Lesende› (analog ‹Mitarbeitende›) oder ‹Für Belesene›?»

In der Tat: Unsere «Richtlinien für die Berücksichtigung des Weiblichen in der geschriebenen Sprache» datieren immerhin von 1986, und ihr Grundsatz lautet: «Wo nötig, sinnvoll und mit vernünftigem sprachlichem Aufwand möglich, sind männliche und weibliche Formen gleichzeitig zu verwenden.»

Ein schöner Gummiparagraf, und in der Anwendung hat er sich so weit gedehnt, dass ihn heute kaum noch jemand kennt. «Sonst meist korrekt» ist vor allem der Lokalteil. Zur Tramplanung hiess es vor Jahren über das Vorbild Strassburg: «Der Strassenraum wird streng nach den Ansprüchen der Fussgängerinnen und Fussgänger, der Velofahrenden, des Trams, der Begrünung und des Autos neu aufgeteilt – und zwar genau in dieser Reihenfolge», das habe der Planer betont. Gewiss geniessen in Frankreich die Damen auch auf dem Fussgängerstreifen (ja, . . .) den Vortritt, aber so wars wohl nicht gemeint.

Die «Velofahrenden» entsprachen schon damals dem Vorschlag «für Lesende», und als Verkehrsteilnehmende taten sie gut daran: Wenn sie in dieser Eigenschaft den öffentlichen Raum beanspruchen, sind sie ja «mitm Radl do», auch wenn sie von ihrem Naturell her vielleicht weder Velo- noch sonst wie Fahrende sind. Der «Bund» aber möchte Leute ansprechen, die gern lesen – auch wenn sie gerade nicht am Lesen sind und auch noch nicht unbedingt «belesen».

«Leute, die gern lesen» ist vielleicht schon zu umständlich für ein Plakat, aber die Formel enthält zwei nützliche Tipps: Zuweilen bieten sich geschlechtsneutrale Wörter wie «Leute» an, und Tätigkeiten müssen nicht unbedingt in ein Dingwort gepresst werden. Denn dort werden die Täter(innen) zum Problemfall. Die Klammer war 1986 noch zugelassen, ist aber heute verpönt. Und das Binnen-I ist unseren LeserInnen erspart geblieben, was vor allem VorleserInnen zu schätzen wissen. Gerade ihnen erleichtert es auch sonst das Leben (und Lesen), wenn «unter Vermeidung der Anhäufung von Substantiven» vieles mit Verbformen gesagt wird. Etwa auf dem nächsten Plakat: «Zum Lesen».

Daniel Goldstein

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