«Der Bund», 19.3.10
Bürgerliche Klappen und Ängste
Wenn wir manchen Stimmen aus dem Wahlkampf glauben dürfen, steht dem Stande Bern wieder einmal eine Schicksalswahl bevor: Es geht darum, ob im Regierungsrat weiterhin eine rot-grüne Mehrheit sitzen wird, oder aber eine bürgerliche. Höchste Zeit also, herauszufinden, was denn «bürgerlich» bedeutet – ausser eben weder rot noch grün, jedenfalls nicht dergestalt grün, dass es sich mit Rot zu einer Mehrheit fügt.
Zum Glück, vermeintlich, ist in den letzten Wochen reichlich Wahlmaterial in den Briefkasten geplumpst. Da müssten doch flammende Bekenntnisse zu bürgerlichen Werten zu finden sein – oder aber finstere Warnungen davor, was uns mit einer bürgerlichen Mehrheit denn so alles drohe.
Aber weit gefehlt: Man muss das ominöse Wort mit der Lupe suchen. Nur jene Partei, die es in ihrem Namen führt, verwendet es überhaupt. Die BDP bietet sich als «bürgerliche Alternative» an – ob sie damit eine Alternative zu den Roten und Grünen meint oder eine zu andern Bürgerlichen, lässt sie offen. Auf Flugblättern für einzelne ihrer Köpfe taucht das Eigenschaftswort ebenfalls auf, sogar mit Zusätzen, die hoffentlich erhellend wirken.
«Wegweisend bürgerlich» ist die Kandidatin für den Regierungsrat – das müsste uns den Weg weisen, tut es aber nicht. Oder ist es gar eine Anspielung auf strenge Asylpolitik? Im Bundesrat wirkt die Vertreterin der gleichen Partei ja eher «wegweisend», aber so ists gewiss nicht gemeint. Zumal sich die BDP im Kanton Bern offen gibt: «Für eine bürgerliche Politik ohne Scheuklappen und Berührungsängste» tritt einer ihrer Grossratskandidaten an. Sind es denn sonst just solche Klappen und Ängste, die bürgerliche Politik kennzeichnen?
Nicht ausdrücklich als «bürgerlich», aber immerhin für eine «bürgernahe» oder «bürgerfreundliche» Politik und Verwaltung treten die Grünliberalen bzw. die SVP an. Nur wollen wir doch annehmen, dass sie dabei an alle Bürgerinnen und Bürger denken, jedenfalls alle mit einheimischem Bürgerrecht. Also an jene, die wählen sollen, um ihre staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen. Das sind die Citoyens, in deren Namen einst die französische Revolution antrat. Doch letzten Endes kam damals die Entmachtung des Adels vor allem den Bourgeois zugute.
Historisch gesehen ist der Begriff «bürgerlich» auf diese durch Besitz und allenfalls Bildung gekennzeichneten «besseren» Bürger gemünzt, und auf die «Kleinbürger», die ihnen nacheifern. Heute mit solchen Einteilungen zu operieren, wäre kein gutes Wahlkampf-Rezept. Besser redet man, wie etwa die BDP in ihren Statuten, von «bürgerlichen Werten wie Eigenverantwortung, Chancengleichheit und Leistungsprinzip». Die Bourgeois des 19. oder 20. Jahrhunderts hätten freilich die Darstellung nicht verschmäht, sie verdankten ihren Rang diesen Leitsternen.
Umgekehrt kann auch eine linke, ehemals «proletarische» Partei solche Werte gut unterschreiben. Sie mag sie weniger stark betonen, aber sie wird kein bürgerliches Monopol darauf anerkennen. Die Etikette «bürgerlich» eignet sich besser dazu, ein Freund-Feind-Schema zu pflegen, als konkrete Politik zu umreissen. Dass sie im Wahlkampf überraschend sparsam verwendet wird, ist eigentlich ein gutes Zeichen. Man könnte sie nach den Wahlen auch ganz einmotten.
© Daniel Goldstein