«Der Bund», 16.10.09
Grundversorger – ambulant und illegal
Ein randloser Brillenträger war er – das konnten alle im Tram sehen. Ob der gepflegte Mittdreissiger, der da mit dem Neuner Monbijou-aufwärts fuhr, auch ein möblierter Zimmerherr war, liess sich nicht erraten; die Gattung ist ja eher selten geworden. Nach seinem Köfferchen zu schliessen, das an einen guten alten Hausarzt erinnerte, mochte er gar der neuen Spezies der «ambulanten Grundversorger» angehören. Über solche schrieb neulich im «Bund» ein Krankenkassenvertreter. Allerdings meinte er damit nicht Gesundheitsdiener, die ihrem Handwerk ambulant nachgehen, also umherwandelnd.
Vielmehr kümmert sich so ein neumodischer Versorger – es kann auch eine Institution sein – um Leute, die sich ambulant versorgen lassen und dann weiterwandeln können, statt stationär gepflegt zu werden. Von ihnen aus gesehen ist die Versorgung ambulant. Der Brillenträger, der Zimmerherr, der Grundversorger – sie alle sind Opfer einer sprachlichen Erscheinung geworden, die mit dem Sack und dem Esel zu tun hat: Man schlägt mit dem Adjektiv das eine und meint das andere. Nicht immer ist der Fehlschlag so offensichtlich wie bei der Brille, deren Randlosigkeit dem Träger verpasst wird, oder beim möblierten Herrn.
Ein besonders perfider Fall, an den sich viele leider schon gewöhnt haben, ist jener des illegalen Einwanderers. Ist etwa der Herr im Tram auch das? Sicher nicht, illegal ist höchstens seine Einwanderung; der Brillenträger wäre somit ein illegal Eingewanderter. Aber kein illegaler Ausländer, denn: «Kein Mensch ist illegal!» Der Spruch, einst an Wände gesprayt, hat wahrhaftig seine Berechtigung, ist also keineswegs illegal – auch wenn die Sprayerei es je nach Ort durchaus sein könnte. Illegal ist der Mann demnach nicht, aber ambulant durchaus: Er bewegt sich ja auf bernmobile Art. Falls er als ambulanter Versorger amtet, tut er dies aber wahrscheinlich irgendwo stationär. Wer ihm bei der Arbeit begegnet, zuckt vielleicht zusammen – aber kaum aus sprachlichen Gründen.
Grund zu derartigem Erschauern gabs indes im Tram, als es sich dem Hirschengraben näherte: «Umsteigemöglichkeit auf die Fernverkehrs- und S-Bahn-Züge», schallte es aus den Lautsprechern. Tatsächlich zuckte unser Brillenträger zusammen und stieg eilends aus. Ob er die «Möglichkeit auf die Züge» wahrnehmen wollte oder sich über diese sprachliche Zumutung so sehr entsetzte, dass an weitere Tramfahrt nicht zu denken war, liess er sich nicht anmerken. Gewiss: Alle verstehen, dass Bernmobil mit der Ansage die Möglichkeit meint, umzusteigen – aber warum sagt es unser Verkehrsversorger dann nicht? Zum Beispiel so: «Hier können Sie auf die Eisenbahn umsteigen.»
Auch so könnte man Fernverkehr und S-Bahn noch gesondert erwähnen, sollte das der Berner Weltläufigkeit wegen unbedingt nötig sein. Vielleicht geriet der Brillenträger, von keinem Rand gehemmt, ja ob der Ansage auch ins Träumen; immerhin waren wir im «Nünitram», das bekanntlich fliegen kann. Und so beschloss er womöglich, mit seinem Köfferchen gleich auf die Transsibirische Eisenbahn umzusteigen. Schliesslich unterscheidet man in Russland zwischen (richtigen) Zügen und der «Elektritschka», dem «Stromerchen», das Gebietchen von der Grösse der Schweiz erschliesst, wenn auch weniger komfortabel als unsere S-Bahn. Höchste Zeit, dass wir dieser ebenfalls einen Kosenamen gönnen: «Ambulanter Grundversorger», kurz «Ambi», wäre gar nicht so unpassend.
Daniel Goldstein
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