«Klartext», Juni 2010
Jetzt schwurbeln sie wieder
Bis vor kurzem hätte ich, nach einer Alternative zu den Nullerjahren gefragt, die Schwurbeljahre vorgeschlagen. Denn ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank SMD bestätigt den Eindruck, das Wort «schwurbeln» samt Ableitungen wie Geschwurbel oder Schwurbelei habe mit der Jahrtausendwende seine Sternschnuppenbahn angetreten. Wer neue Sternchen englischer als englisch «shooting stars» nennt, vergisst meistens, dass damit dem Verglühen geweihte Meteoriten gemeint sind.
Dem Schwurbeln am Wörterhimmel schien es tatsächlich so zu gehen: Bis 1999 eine Rarität, schoss es in den nächsten paar Jahren durch den zweistelligen Bereich der jährlichen Fundstellen, um dann allmählich abzuklingen. Doch wen das Wort geärgert hatte, der freute sich zu früh: Vergangenes Jahr erlebte es eine Renaissance, die anhält, mit 39 Nennungen allein in den ersten vier Monaten 2010. Noch sind wir ja im letzten Jahr des ersten Jahrzehnts – mag sein, dass wir «schwurbeln» beim letzten Aufglimmen vor dem Verlöschen sehen.
Dabei ist dieser Ausdruck für gehobenes Geschwätz, Geschwafel oder Schwadronieren gar nicht so übel, auch wenn er die Aufnahme in den Duden bisher nicht geschafft hat. Der kennt nur «schwurbelig, ugs. für schwindelig, verwirrt». Für das Verb, das diesen Zustand bewirkt, muss man schon auf die Brüder Grimm zurückgreifen, deren Wörterbuch «schwurbeln» durchaus enthält – nicht nur für heftiges Wirbeln eines Gewässers oder einer Menschenmenge, sondern auch als «dummes zeug durch einander reden».
Mit dem Schwurbeln (dem Wort, nicht der Sache) können wir leben – aber vielleicht ist wenigstens das Jahrzehnt des «Ungenügens» vorbei. «Unwillig erfahren diese modernen Herren Jedermann das Ungenügen an ihrem Leben», war neulich in einem deutschen Feuilleton zu lesen, und dort möge solches Schwurbeln bleiben. Gewöhnlich bedeutet Ungenügen, jemand genüge Anforderungen nicht, hier aber genügt etwas – das Leben – jemandem nicht, er oder sie empfindet darob Unzufriedenheit, Unbehagen. Das sollte genügen.
© Daniel Goldstein
P.S. Zu Ehren jener, die ihr quälendes Unbehagen «Ungenügen» nennen: Der Online-Duden (duden.de) kennt diese Bedeutung als «selten», das Digitale Wörterbuch (dwds.de) als «gehoben», mit diesem Beleg: jenes ... Ungenügen in ihm zu nähren, das der Liebe zu den Wissenschaften, zum Geist und zum Schönen die Kraft gibt – Hesse Glasperlensp. 6,536. Auch bei Gotthelf kommt es vor: Wer begreift nicht das Ungenügen der Vehfreudiger, und dass daraus billigerweise Misstrauen entstehen musste? [gegen die Käsehändler] – Ex-Libris-Ausg. 510.