Sprachspiegel-Buchtipp, Feb. 2019

Gleichzeitiges Werden und Vergehen als Perpetuum mobile

Guy Deutscher: Die Evolution der Sprache. Wie die Menschheit zu ihrer grössten Erfindung kam. C. H. Beck, Paperback 2018. 381 S., ca. Fr. 22.–.

«Das, was man Auf‌bau nennt, kommt nur […] durch einen Verfall zu Stande, und das, was man Verfall nennt, ist nur die weitere Fortsetzung dieses Prozesses.» Diese fernöstlich anmutende Weisheit hat 1880 der deutsche Gelehrte Hermann Paul als eines ­seiner «Principien der Sprachgeschichte» aufgeführt – in auf‌fälligem Kon­trast zum linearen europäischen Geschichtsverständnis, das in Bezug auf die Sprache fast immer in ein ­Lamento über deren Verfall mündet. Antworten auf die Frage, warum nach Jahrhunderten des angeblichen Niedergangs die (europäischen) Sprachen noch immer nicht zu ­unverständlichen «Grunzlauten von ­Affen» verkommen sind, hat der in England lehrende israelische Linguist Guy Deutscher gesucht.

Von Tarzan zu Goethe

Paul ist der früheste Vorläufer, den Deutscher für seine Kernthese zitiert: Neben dem augenfälligen Wandel, der vielen als Verfall vorkommt, er­leben Sprachen laufend auch auf­‌bauende Veränderungen, nur weniger offensichtliche. Sein 2005 auf Englisch erschienenes Buch war wohl überhaupt das erste, das diese Sichtweise einem breiteren Publikum darlegte. Unter dem originalnahen Titel «Die Evolution der Sprache» ist es jetzt zum zweiten Mal auf Deutsch erschienen. Die erste Auf‌lage war 2008 noch effekthascherisch «Du Jane, ich Goethe» überschrieben.

Dynamisches Gleichgewicht

Eine Sprachstruktur wie beim Film-Tarzan vermutet Deutscher in der Frühgeschichte, mit Wörtern für Personen, Dinge und Handlungen, etwas später auch Pronomen wie «du» und «ich». Belegen lässt sich dieser Zustand natürlich nicht, und noch weniger, aus welchen Urtönen die ersten Wörter entstanden sind. Aber der Autor beginnt bei «Tarzan», weil er Mechanismen erkennt, die von diesem Stadium aus die Entwicklung komplexer Wort- und Satzformen erklären können – bis hin zu den heutigen Sprachen (bzw. ihren im verklärenden Rückblick vollkommenen Frühformen). Und noch heute sind solche Mechanismen am Werk, um sich abschleifende Formen der Komplexität (etwa bei der Wortbeugung) durch Neu­bildungen auszugleichen.

Das anschaulich geschriebene Buch enthält Beispiele aus vielen Sprachen und wahre Detektivgeschichten aus der Erforschung der Sprachgeschichte. Der Übersetzer Martin Pfeiffer ­ersetzt viele aus dem Englischen geschöpfte Darlegungen durch solche aus dem Deutschen, so beim Lautwandel. Geblieben ist als aktuelle englische Entwicklung etwa das Wort «gonna», oft als nachlässiges «going to» geschmäht, bei Deutscher aber als neue Art gewürdigt, Zukünftiges anzugeben.

Die Form folgt der Funktion

In einer als Dialog gehaltenen Passage lässt der Autor einen fiktiven Fachkollegen dazu erklären: «Wörter laufen [nicht mit] T-Shirts herum, auf denen ‹Substantiv› oder ‹Verb› steht» – die Wortart ergibt sich aus der Verwendung. Beispiele aus der Reform der deutschen Rechtschreibung wurden nicht aufgegriffen; angeboten hätten sich das neue Adverb «infrage» oder die Präposition «mithilfe». Das sonst sehr sorgfältig produzierte Buch schreibt an einer Stelle «um so» nach Reformmanier getrennt, obwohl das Wort ein schönes Beispiel für eine Verschmelzung wäre und seit 2006 wieder zusammengeschrieben wird. Und einmal steht im Buch «hinter’s».

Eingehend wird ein viel früherer Zusammenzug geschildert: Im Althochdeutschen «niowiht» ist «ni-eô-wiht» für «nicht ein Wesen» noch erkennbar, im heutigen «nicht» ist die Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten längst vollendet. ­Diese tritt häufig auf, aber nur in ­einer Richtung: Metaphern erstarren, bis sie überhaupt nicht mehr bildlich wirken (bei «going to» mag man noch ans Schreiten denken, bei «gonna» kaum). Und so erwacht das Bedürfnis, dürre Wörter wieder auszuschmücken; der englische Zusatz «at all» wird genannt. «Nicht die Bohne» wäre ein deutsches Beispiel, vielleicht dereinst «nibohn».

Kreislauf mit Hemmnissen

Neben der Ökonomie (Abschleifen, Zusammenziehen) und der Expressivität (Ausschmücken) nennt Deutscher die Analogie als dritte Hauptkraft des Sprachwandels. Sie vermag so komplizierte Entwicklungen wie das semitische Verbsystem zu erklären, aber auch Kleinigkeiten der Alltagssprache. So hat das dank einem Beatles-Film verbreitete «grotty» (aus «grotesque») zur Rückbildung «grot» für «Dreck» geführt. Auch da hätte sich ein Seitenblick ins Deutsche angeboten: «grottenschlecht» könnte entlehnt sein; es weist zudem auf den Ursprung von «grotesk» zurück.

Sprache als Kreislauf: Die Idee hat ­ihren Reiz, im Kleinen wie im Gros­sen. Allerdings schliesst Deutscher mit der Vermutung, in kodifizierten Standardsprachen für grosse Sprachräume könnten ausgerechnet die auf‌bauenden Mechanismen gehemmt sein.

© Daniel Goldstein (Sprachspiegel – www.sprachverein.ch)