Sprachspiegel-Buchtipp, Feb. 2015
Bücherbrett: Landessprachen
Wider den sprachlichen Kantönligeist
Romedi Arquint: Plädoyer für eine gelebte Mehrsprachigkeit. Die Sprachen im Räderwerk der Politik. NZZ Libro 2014, 158 Seiten, Fr. 29.-
Wer hinter dem Buchtitel einen weiteren Aufruf vermutet, den Zusammenhalt der Schweiz durch vermehrten Sprachunterricht zu stärken, liegt nicht ganz richtig: Der deutsch schreibende Rätoromane Arquint gehört nicht zu jenen Warnern, die meinen, die Schweizer verstünden einander zu wenig. Vielmehr geht es ihm um die Sprachfreiheit jener Mitbürger (und Ausländer), die nicht im Gebiet ihrer Muttersprache leben: Für sie ist das Territorialitätsprinzip, das jeden Flecken Land einer Sprache zuordnet, ein Nachteil.
Der Autor zeigt, dass dieses Prinzip nicht einfach der historisch gewachsenen Realität entspricht, sondern der Verfestigung der Nationalstaaten vor allem im 19. Jahrhundert entspringt. Zuvor war sowohl in den Adelshäusern als auch im einfachen Volk individuelle Mehrsprachigkeit weit verbreitet. Die mehrsprachige Schweiz entging zwar der Festlegung auf eine einzige Staatssprache, aber die einzelnen Kantone erhielten eine nationalstaatlich anmutende Sprachhoheit, in mehrsprachigen Kantonen aufgesplittert bis auf die Gemeindeebene.
«Babylonische Gefangenschaft»
Arquint möchte die Sprachen aus ihrer «babylonischen Gefangenschaft» befreien und das Bildungswesen von der «Krankheit Einsprachigkeit» erlösen. Am besten ist in dieser Hinsicht seine engere Heimat dran: «Der Rätoromane wird zu einem Vorreiter Europas, das auf Mehrsprachigkeit angewiesen ist.» Nur sollte er auch ausserhalb Graubündens bessere Möglichkeiten haben, die Muttersprache zu pflegen. Für im «falschen» Gebiet Lebende sollte es Unterricht in «heimatlicher Sprache und Kultur» geben, wie bereits für manche ausländischen Migrantenkinder. Ideal wären zweisprachige Schulen.
Mehrsprachige Bildung preist der Autor auch für die jeweilige Mehrheitsbevölkerung an, vor allem weil sie eine individuelle Bereicherung darstelle. Zweitrangig ist für ihn das Argument, mit dem Unterricht in Landessprachen die Verständigung zu fördern: Dem französischen Bonmot, wonach die Schweizer «miteinander auskommen, sich aber nicht verstehen»1, gewinnt er sogar Positives ab, indem er den pfleglichen Umgangston im Parlament darauf zurückführt. Dagegen beklagt er, dass Volksinitiativen jenen als Vehikel dienen, «die sozusagen mit dem ‹Segen› des Mehrheitsvolks ihre Anliegen durchbringen können, ohne auf die Befindlichkeiten der anderen Sprachgebiete achten zu müssen».
Eine Lanze für das Englische
Bei der Zweisprachigkeit und bei der Beherrschung der lokalen Mehrheitssprache sind gemäss Arquint nur «ausreichende» Kenntnisse nötig, also solche, die staatsbürgerliche Teilnahme ermöglichen. Die schweizerische Identität sei in erster Linie eine politische, nicht eine sprachliche: «Dass wir uns verstehen müssen, ist ein rhetorisches Relikt aus der nationalen Mottenkiste.» Ein «Mythos» sei aber auch die Ansicht – im Volk wie im Bundesgericht –, die Abgrenzung der Sprachgebiete sei für den Sprachenfrieden nötig.
Das «Recht auf Muttersprache» geht für den Autor vor, nur soll sie nicht die einzige bleiben. Beim Sprachenunterricht findet er indessen die Frage erlaubt, ob wegen der Berufsaussichten «die beim Englischen zu erreichenden Standards nicht höher anzusetzen sind als bei der zweiten Landessprache». Den Vorrang für Letztere zu fordern, «erweist sich eher als ein politisches Zugeständnis an eine nationale Symbolik denn als strategisches Ziel einer Bildungspolitik, die sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft und an der Zukunft der Schülerinnen und Schüler orientiert.» Die «gelebte Mehrsprachigkeit», die dem Autor vorschwebt, greift weit über die Schule hinaus, und die Schweiz ist eher ein Übungsfeld dafür als ein pflegebedürftiges Sprachenkonstrukt.
© Daniel Goldstein (Sprachspiegel – www.sprachverein.ch)
1Im Buch ist «s’entendre» mit «einander hören» übersetzt (S. 103) – hier unpassend, aber gerade ein Beispiel für die Aussage, es mangle an Verständnis.