Sprachspiegel-Buchtipp, Dez. 2014
«Wenn Sprachen sterben …
… und was wir mit ihnen verlieren»: Buchplädoyer für Vielfalt
Wir verlieren ungeheuer viel, lautet Nicholas Evans’ Antwort auf die im Untertitel seines Buchs1 angesprochene Frage, denn: «Die Sprachen der Welt sind so unterschiedlich, dass es manchmal nur eine Sprache gibt, die den Schlüssel zu einem bestimmten Menschheitsrätsel birgt.» Die sprachliche Vielfalt ist damit ein Wert an sich, ähnlich wie die Biodiversität – und obendrein mit dieser verwandt: Gibt es in einer Weltregion besonders vielerlei Lebewesen, so gilt das meist auch für die Sprachen, da sich bei naturnaher Lebensweise kleinere Sprachgemeinschaften zu erhalten pflegen – wobei die eigene Sprache für den Zusammenhalt, die Mehrsprachigkeit für den (auch genetischen) Austausch wichtig ist.
Ganz direkt wirkt sich der Zusammenhang etwa aus, wenn mit der Sprache auch botanisch-ökologisches Wissen weitergegeben wird, so bei Aborigines in Evans’ Heimat Australien. Fische werden etwa nach den Bäumen benannt, deren ins Wasser fallende Früchte sie gern fressen. Die Suche nach Fangplätzen wird dadurch leichter, aber sie wäre auch ohne die Eselsbrücke der Namen möglich. Aufgrund vieler – und weit komplizierterer – Beispiele aus aller Welt hält es der Autor in der Kontroverse um die Sprachabhängigkeit des Denkens mit Sapir (vgl. nachfolgende Rezension: Steven Pinker, «Der Stoff, aus dem das Denken ist»). Für Sapir sind Sprachen «einander als symbolische Ausdrucksmittel nur sehr grob gleichwertig», weil sie grundlegende Begriffe ganz verschieden systematisieren. Dagegen rechnet Evans Steven Pinker jener Schule (um Chomsky) zu, die eine universelle, von den einzelnen Sprachen unabhängige «Denksprache» postuliert.
Dieser Schule hält der Autor entgegen, dass die angeblichen «Universalien» verschwinden, wenn man genügend viele Sprachen daraufhin untersucht, ob sie ihnen entsprechen. Ist es zum Beispiel in europäischen Sprachen selbstverständlich, den Zeitpunkt einer Handlung mit der Verbform (oder separat) anzugeben, so kann er anderswo auch mit dem Substantiv verknüpft sein. Zwar lässt sich alles übersetzen, aber immer nur als Annäherung, wozu man zuerst «alles bis zum Fundament abbauen» müsse. Da liesse sich freilich die Frage einwerfen, ob dieses Fundament nicht doch eine universelle Denksprache sei. Dem Buch selber ist übrigens kaum anzumerken, dass es übersetzt ist (von Robert Mailhammer); im Weltmassstab sind Deutsch und Englisch so nah beieinander, dass die Annäherung an fremdere Sprachen ähnlich ausfällt.
Linguistische Detektivarbeit
Welche «Schlüssel zu Menschheitsrätseln» haben Evans und seine Forscherkollegen nun in einzelnen Sprachen gefunden? Detailliert und spannend wird beschrieben, wie manche Aufklärung sprachgeschichtlicher Zusammenhänge oder Entschlüsselung alter Schriften nur dank einem Kettenglied gelungen ist, das in einer Sprache überlebt hat. Und weil viele Sprachen nur noch von wenigen gesprochen werden, ist diese Detektivarbeit auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Bei der Weltbeschreibung über die Sprache hinaus aber tauchen kaum derartige Schlüssel auf. Was bleibt, ist die grosse Vielfalt an Werkzeugen der Erkenntnis, die verschiedene Sprachen bereitstellen: «Unsere Aufmerksamkeit gegenüber vielen Dimensionen der Welt verkümmert, wenn (…) diese Teile in unserer Muttersprache nicht benötigt werden – es sei denn, sie bleiben durch ein zwei- oder mehrsprachiges Umfeld erhalten.»
Eine dieser Dimensionen, auf die wir im Deutschen weit weniger achten als Sprecher vieler anderer Sprachen, ist der Wahrheitsgehalt von Aussagen. Genauigkeit bezüglich der Quellenlage saugt man manchenorts schon mit der Muttersprache ein. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir sagen, «ich möchte Wasser trinken», sagen wir auch «er möchte Wasser trinken». Evans legt nun dar, dass sich etwa im Japanischen nur der erste Satz genau so wiedergeben lässt; beim zweiten muss man dem Umstand Rechnung tragen, dass man den Wunsch oder die Absicht einer anderen Person nicht mit gleicher Zuverlässigkeit kennen kann. Die passenden Verbformen entsprechen im Deutschen Aussagen wie «er möchte offensichtlich Wasser trinken» oder «es scheint, dass er Wasser trinken möchte». Im Koreanischen weicht das Futurum einer «Vermutungsform», wenn es um andere Personen geht. Newari, eine mit dem Tibetischen verwandte Sprache in Nepal, unterscheidet für die sprechende Person mit unterschiedlichen Verbformen zwischen willentlich herbeigeführten und unbeabsichtigten Ereignissen. Für andere Personen kann man die willentliche Form nur in Fragen verwenden; in Aussagen lässt man durch die andere Form offen, ob Willen dahintersteckte.
Gewisse Dinge muss man ganz genau sagen
Es gibt aber nicht nur den «Unterschied zwischen dem, was inneres, subjektives Wissen ist, und dem, was äusserlich sichtbar und daher allen als Informationsquelle zugänglich ist». Im Buch werden verschiedene Verbformen aus dem beinahe ausgestorbenen Östlichen Pomo in Kalifornien angeführt: Die Übersetzung von «es brannte» muss eines von vier möglichen Suffixen tragen, je nachdem, ob man es am eigenen Leibe erfahren hat, über direkte andere Hinweise verfügt, über indirekte Hinweise oder über Informationen anderer. Während man solche Angaben auf Deutsch zufügen oder weglassen kann, wird man im Pomo von der Grammatik dazu gezwungen, sie zu machen.
Derartige «gut ausgebaute Evidentialitätssysteme» findet man bei vielen indigenen Sprachen ganz Amerikas, aber auch in der Türkei, im Kaukasus, im Himalaya oder in Neuguinea. Weit raffinierter als in Europa sind oft auch Bezeichnungen und Verbformen für Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen. Dazu abschliessend ein Wort aus dem Buch auf Dalabon (Nordaustralien) – Wekemarnûmolkkûnhdokan:
«Ich befürchte, dass die beiden, die gegenseitig in einem ungeradzahligen Generationenverhältnis stehen, vielleicht, mit Folgen für jemand anderen und ohne dass eine wichtige Person davon weiss, gehen; durch die gewählte Wortform zeige ich hiermit an, dass einer der beiden Handlungsträger eine Schwiegermutter von mir ist oder ein anderer Verwandter, mit dem ich in einem besonderen Respektverhältnis stehe.»
© Rezension: Daniel Goldstein (Sprachspiegel – www.sprachverein.ch)
1Nicholas Evans: Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren. C. H. Beck, München 2014. 416 Seiten, ca. Fr. 45.–