Sprachspiegel-Buchtipp, Feb. 2013

Sprache und Nation

Geschichte rückwärts geschaut: Deutsch wurde erarbeitet, nicht ererbt

Utz Maas: Was ist Deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland. Unter Mitarbeit von Solvejg Schulz. Wilhelm Fink Verlag, München 2012. 532 S., Fr. 121.-

Der Untertitel «… Verhältnisse in Deutschland» macht stutzig: Nimmt Utz Maas für sein Land die Deutungshoheit in Anspruch, um die Frage «Was ist Deutsch?1» zu beantworten? Doch eine solche nationalistische Lesart liefe der Absicht des Autors diametral entgegen: Von einer angeblich auf die Germanen zurückzuführenden, quasi biologisch begründeten Wesenseinheit von Nation und Sprache hält er gar nichts, und er bezieht Österreich und die Schweiz durchaus in seine Überlegungen ein, ohne den Nachbarn eine deutsche Leitkultur (oder Schlimmeres) nahezulegen.

Streben nach der «Imago»

Einen Bezug zwischen Sprache und Nation stellt Maas durchaus her; er fasst ihn mit einer Entlehnung aus der Psychoanalyse: Imago. Darunter versteht er eine das Handeln leitende Idealvorstellung, und in ihr wird «das gesellschaftliche Projekt sichtbar, zu dem die Nationalsprache gehört. (…) Dieses Projekt wurde in einer jahrhundertelangen Spracharbeit umgesetzt.» Die heutige deutsche Schriftsprache als Resultat dieser Arbeit ist das Kernthema des Buchs; sie ist etwas Gemachtes, nicht etwas naturgesetzlich Gewachsenes.

Das Werk, das aus langjähriger Lehrtätigkeit an der Universität Osnabrück hervorgegangen ist, bedient sich eines klugen Kniffs, um die bewusste Sprachbildung sichtbar zu machen: Es geht die Geschichte rückwärts an, von der Gegenwart her. Schicht um Schicht wird freigelegt, wie der «Sprachausbau» abgelaufen ist. Vom Allgemeinen führt jedes Kapitel ins Besondere, das an ausgewählten Beispielen – oft aus dem niederdeutschen Umfeld Osnabrücks – akribisch beleuchtet wird. Diese Abschnitte setzen linguistische Fachkenntnisse voraus; der Autor weist darauf hin, man könne sie auch überschlagen.

Allerdings pflegt er auch in den allgemeinen Teilen oft eine schwierige Sprache; so nennt er die Tendenz, statt besuchen «einen Besuch machen» zu sagen, ein «periphrastisches Muster, das die Finitheitsmarkierung vom lexikalischen Verb analytisch trennt». Mit einer Reihe von derartigen Mustern lautlicher, morphologischer, syntaktischer, lexikalischer und orthografischer Art charakterisiert Maas das (heutige) Hochdeutsch.

Luther als Suchender

Auch bei rückwärtslaufender Betrachtung kommt Luthers Bibel-Übersetzung eine zentrale Stellung zu. Der Autor unterstreicht, dabei habe es sich nicht um eine normsetzende Arbeit im stillen Kämmerlein gehandelt, sondern um Teamwork mit dem Ziel, möglichst im ganzen deutschen Sprachraum und auch vom ungebildeten Volk verstanden zu werden. Das wird anhand unterschiedlicher Fassungen in mehreren Auflagen der Übersetzung dargelegt; so verschwinden «ostmitteldeutsche» Formen, und soweit sich Luther am Oberdeutschen orientiert, achtet er auf Verständlichkeit im Norden.

Bei dieser Arbeit hat sich der Reformator auch schrittweise vom verschachtelten lateinischen Satzbau gelöst. Dennoch ist der Einfluss des Lateins auf die deutsche Schriftsprache bis heute spürbar, namentlich in der normativen Grammatik. Eingehend beschäftigt sich Maas mit dem Jidischen (das er phonetisch mit bloss einem d schreibt; die Verdoppelung erklärt er mit dem Reimport des Worts aus dem Englischen) – einmal, weil es vom Hebräischen her verschriftlicht wurde, dann auch wegen seines überregionalen Aspekts und als Beleg für Vielfalt an Wurzeln des Deutschen.

Aus vielen Registern geschöpft

Die Hochsprache schöpft nicht nur aus verschiedenen Registern wie der familiären und der informell öffentlichen Sprache, beide in dialektaler Vielfalt; sie schöpft auch aus Minderheits- und Nachbarsprachen – und aus jenen Eingewanderter. Diese Vorgänge erschliessen für den Autor die Quintessenz: «Die Antwort auf die Frage ‹Was ist deutsch?› ist in den Bedingungen für den Umbau der ererbten Strukturen zu suchen, nicht in diesen», und damit auch nicht in der Etymologie.

Diese Unterscheidung hat ihre Bedeutung auch für die Sprachpolitik, um die es dem Autor nicht nur nebenbei geht: Die «Herausbildung der modernen Gesellschaft zeigt das, was sie zusammenhält: die Einbindung aller in das gesellschaftliche Projekt, zu dem eben auch die Verkehrssprache Deutsch gehört. (…) Einwanderer in diese Gesellschaft wollen in der Regel, in jedem Falle müssen sie Zugang dazu erhalten.» Das hat für Maas aber nichts mit «der Konstruktion einer Leitkultur» zu tun, die er für ein Instrument der Ausgrenzung hält. Man könnte die einheimische Kultur aber, besonders wenn man ihr Entstehen ebenfalls «gegen den Strich» analysiert, auch als Wegmarke der Einbindung sehen.

© Daniel Goldstein (Sprachspiegel)

1Der Buchtitel steht in Versalien; im Titeleintrag der Deutschen Nationalbibliothek ist «Deutsch» grossgeschrieben; der Autor schreibt es klein, wenn er die Titelfrage zitiert.