Sprachspiegel-Buchtipp, August 2012
Lassma so Dialekt machen
Feldforschung zur Jugendsprache Kiezdeutsch in Berlin-Kreuzberg
Heike Wiese: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. Verlag C. H. Beck, München 2012. 280 Seiten, Fr. 18.90
«Lassma Kino gehen» – «Ich frag mein Schwester.» – «Die guckt so zu dir so.» Wo Kiezdeutsch in Sprechblasen auf dem Buchdeckel steht, ist Kiezdeutsch drin – zum Glück nicht durchgehend: Die Metasprache, in der Heike Wiese diesen «neuen Dialekt» aus Berlin (und ähnlich aus anderen deutschen Städten) beschreibt, ist Standarddeutsch. Den Begriff «Hochdeutsch» lässt sie nur im geografisch-linguistischen Sinn gelten, obwohl sie sonst sehr geneigt ist, dem aktuellen Sprachgebrauch zu folgen und ihn bei Bedarf zu rechtfertigen – namentlich den kiezdeutschen. Aber es geht ihr gerade darum, der Standardsprache keinen höheren, sondern nur einen funktionalen Wert beizumessen, wenn auch durchaus einen grossen: Sie findet nicht, dass man es «nicht lernen braucht» (auch wenn sie die Weglassung des «zu» für eine sprachgeschichtlich konsequente «Modalisierung» des Verbs «brauchen» hält).
Bei ihren Untersuchungen in Berlin hat die in Potsdam lehrende Professorin Wiese festgestellt, dass die (mit Aufnahmegeräten ausgerüsteten) Jugendlichen durchaus zwischen den Situationen zu unterscheiden wissen, wo welche Sprachform angebracht ist. Sie definiert: «Kiezdeutsch ist ein Sprachgebrauch im Deutschen, der sich unter Jugendlichen in Wohnvierteln wie Berlin-Kreuzberg entwickelt hat, in denen viele mehrsprachige Sprecher/innen leben.» Dabei legt Wiese Wert auf die Feststellung, dass auch Jugendliche aus deutschsprachigem Elternhaus Kiezdeutsch reden, und sie findet darin auch nur wenige Einsprengsel aus anderen Sprachen.
Im Deutschen angelegt
Vielmehr erklärt die Autorin die Besonderheiten, wie sie aus den Eingangszitaten sprechen, mit Ansätzen, die es in der deutschen Sprache allgemein gibt: «Lassma» (als Zusammenzug von «lass uns mal») ist demnach eine erstarrte Partikel wie «bitte», ebenso «gibs», das Wiese als «Existenzanzeiger» deutet. Dass bei «Kino gehen» der Artikel fehlt, entspricht laut ihr etwa der Aufforderung «Alex umsteigen» in der Strassenbahn. Das e fehlt in «mein Schwester», wie es auch in «ich sag» fehlen kann; die Autorin geht nicht drauf ein, dass sich «mein» und «meine» in der Bedeutung unterscheiden (sollten), «sag» und «sage» aber nicht. «So» kommt als «Fokusmarker» auch anderswo vor, eine Wortstellung wie «Kai danach gibt dem Hund einen Knochen» gar im Althochdeutschen. «Rote Ampel machen» (= missachten) ist ein «Funktionsverbgefüge» wie «zur Aufführung bringen».
Diese Verwurzelungen bringen Wiese zum Schluss, Kiezdeutsch sei ein Dialekt, «der – wie andere Dialekte auch – die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt». Ja sogar, weil dies besonders schnell geschieht, ein «Turbo-Dialekt». Gerade dieses Tempo ruft indes auch nach der Frage, ob die Einstufung als Dialekt nicht etwas voreilig sei: Es könnte alle paar Jahre ein neuer sein. Die Kritik, die der Autorin in Deutschland recht ausgiebig entgegenschlägt, setzt aber nicht beim Zeitpunkt an. Vielmehr halten es manche Fachleute für verkehrt, Kiezdeutsch als Dialekt gewissermassen anzuerkennen, statt diese Jugendlichen zur Standardsprache zu erziehen. Häufig wird die Ablehnung des Kiezdeutsch mit Brutalzitaten unterlegt, wie «Isch mach disch Messer».
Auch anderswo «kiezig»
Nun bestreitet Wiese die Notwendigkeit der Standardsprache ja nicht, nur sieht sie die Dialekte nicht als Konkurrenz dazu; sie erkennt vielmehr in dieser innerdeutschen Mehrsprachigkeit (wie auch in jener mit andern Sprachen) einen Vorteil für den bewussten Umgang mit der Sprache. Sie stört sich daran, dass in der öffentlichen Wahrnehmung eine «Abwertungsspirale» die Bewohner des Kiezes und ihre Sprache stigmatisiere; fast in gleichem Mass hat eine ihrer Erhebungen dies auch fürs althergebrachte Berlinisch ergeben.
Da zeigt sich eine Geringschätzung der Dialekte allgemein, da diese vielerorts mit einer sozialen Schichtung einhergehen; auch in Schweden und England gibt es «Kiezsprachen» mit ähnlichen linguistischen Erscheinungen und ähnlichen Aversionen. Die dialektfreundliche Schweiz könnte da eine Ausnahme machen; allerdings stösst die «balkanisch» gefärbte Jugendsprache als «nicht richtiges Schweizerdeutsch» ebenfalls bei vielen auf Ablehnung. Wie das Schweizer «Jugendwort des Jahres» 2009 zeigt, «gibs» eine Ähnlichkeit mit Kiezdeutsch: «S’Beschte wos je hets gits».
© Daniel Goldstein (Sprachspiegel)