Sprachspiegel, Oktober 2014
Bücherbrett: Was Texte modern macht
Mario Andreotti: Die
Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des
Schreibens:
Erzählprosa und Lyrik. UTB Band 1127. Haupt, Bern 52014. 488 S., ca. Fr. 28.-
Ein
schöner
Zufall will es, dass just vor Abschluss seiner «Sprachspiegel»-Serie
Mario
Andreottis 1983 erstmals erschienenes Grundlagenwerk über die moderne
Literatur
in fünfter, abermals nachgeführter und erweiterter Auflage
herausgekommen ist.
Es ist ein reichhaltiges Handbuch, das sich durchaus auch als Lektüre
anbietet
und auf anregende Weise an moderne Erzähl- und Gedichtformen
heranführt.
«Modern» bedeutet dabei nicht einfach zeitgenössisch; vielmehr ist wie
bei
anderen Kunstgattungen und sogar im gesellschaftlich-politischen
Bereich eine
Geisteshaltung gemeint, wie sie aus der zunehmen technisierten Welt
hervorgeht.
Was gerade der flatterhaften Mode entspricht, mag man modisch
nennen – es
kann, muss aber nicht im epochalen Sinn modern sein.
Das Zeitalter der Auflösung
Was diese
Modernität ausmacht, zeigt Andreotti mit gerafften, aber treffenden
Einblicken
in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, Philosophie und Psychologie,
Malerei
und Musik. In parallel gedruckten Spalten führt er Auswirkungen dieser
Entwicklungen
auf die Literatur an. Diese Darstellungsform ist zusammen mit
Textbeispielen,
Grafiken, Glossar, Register und sogar einigen Übungsaufgaben fürs
Studium und
Ratschlägen fürs Schreiben eine besondere Stärke des Buchs. Die
Quintessenz ist
es, in der Moderne Reaktionen auf die Auflösung von Gewissheiten zu
sehen, etwa
auf die von Sigmund Freud geprägten drei Kränkungen durch den Verlust
des geo-
und des anthropozentrischen Weltbilds sowie zuletzt der Herrschaft über
die
eigene Psyche.
Für die
Literatur
bedeutet das vorab die «Ichauflösung», auf die der Autor immer wieder
zurückkommt. Sie betrifft die Erzähler, die – statt allwissend – in
vielfältige
Perspektiven aufgesplittert sind oder ganz aus den Werken verschwinden.
Sie
betrifft die Helden, die nicht mehr von einem feststehenden oder sich
entwickelnden Charakter her gezeichnet werden, sondern mit ihren
jeweiligen
Handlungen oder Haltungen «gestisch» und exemplarisch auftreten. Die
Auflösung
befällt zudem das «lyrische Ich», das im «bürgerlich-traditionellen»
Gedicht
seine Erfahrungen oder Stimmungen ausbreitet, während aus dem modernen
niemand
spricht, soweit da überhaupt noch gesprochen wird.
Die unendliche Moderne
Im Gedicht
zeigt sich am deutlichsten, dass sich in der Moderne auch die
literarischen
Formen auflösen: Gattungen geraten – wiewohl sie das Gerüst des
Handbuchs
bilden – durcheinander, und sie halten sich nicht mehr an formale
Vorgaben für
den Aufbau oder auch die Sprache. Form und Inhalt lassen sich ebenfalls
nicht
mehr eindeutig trennen; gerade ihre Verquickung ist es, die Andreotti
«Struktur» nennt und an vielen Beispielen zeigt. Derart gebrochene
Strukturen
zeichnen auch neuere Stilrichtungen aus, die nicht mehr der
«klassischen»
Moderne zuzurechnen sind, aber aus ihr hervorgehen. Oft zeigen das
schon die
Bezeichnungen, etwa «Postmoderne» oder «Zweite Moderne».
«Anything
goes», das
Beliebigkeitsmotto postmodernen Lebens und Schaffens, lässt der Autor
für die
Literatur aber nicht ganz gelten: Wer sich um die Moderne völlig
foutiert und entsprechend
«dem alten, bürgerlich-individualistischen Weltbild» erzählt, der
schreibt
«mehr oder weniger epigonal». Zu Andreottis Leidwesen betrifft das die
grosse
Mehrheit der heute unter dem Diktat des Markts publizierten Texte.
Dagegen
bilde «nur ein Schreiben, das die Errungenschaften der literarischen
Moderne
mit einbezieht, die Voraussetzung dafür, dass ein Werk nicht nur ein
kurzzeitiger Saisonerfolg bleibt, sondern dauerhafte Wirkung
entfaltet». Eine
in diesem Sinn unendliche Moderne wäre, so verstehe ich das, so etwas
wie das
«Ende der Geschichte» – eine gewagte Prognose, ob sie nun wie bei
Fukuyama die
Welthistorie oder allein die Literatur betrifft.
©
Daniel
Goldstein (www.sprachverein.ch)