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Sprachlupe 403, Nachtrag 4. 7. 2025
Für Antisemitismus-Vorwürfe braucht es gute Gründe
Israel-Kritik als antisemitisch abzutun, ist oft eine billige Ausflucht – aber nicht immer. So oder so wären Gegenargumente besser.
In der letzten «Sprachlupe» (Wann ist Kritik an Israels Politik antisemitisch?) habe ich auf eine frühere verwiesen, zum Thema «Nazikeule». Sie schloss mit Blick auf eine schräge Parallele EU/Nazideutschland so: «Wer (…) die Nazikeule schwingt, scheint um bessere Argumente verlegen zu sein.» Auch wer die Antisemitismus-Keule schwingt, scheint um bessere Argumente verlegen zu sein. Heute trifft der rhetorische Vorwurf des Antisemitismus oft die Kritik an Israels Kriegführung in Gaza. Wenn die Kritik aus der Uno kommt, weisen israelische Politiker sie nicht selten als «antisemitisch» zurück, ohne inhaltlich darauf einzugehen. Als Francesca Albanese, Sonderbeauftragte des Uno-Menschenrechtsrats für die besetzten palästinensischen Gebiete, kürzlich auf Einladung von Amnesty International für Vorträge in die Schweiz kam, waren auch hiesige Juden alarmiert.
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, sagte der NZZ: «Es ist unentschuldbar, dass eine Menschenrechtsorganisation einer Referentin, die solch antisemitische Aussagen tätigt, eine Plattform gibt.»* Gemeint waren laut der Zeitung Aussagen wie die, Gaza sei das «grösste und beschämendste Konzentrationslager des 21. Jahrhunderts» oder «nicht der Judenhass, sondern die Unterdrückungspolitik Israels» sei die Ursache des Massakers vom 7. Oktober 2023. Und im Juli 2024 «stimmte sie (auf X) einem Bild zu, das den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu mit Hitler gleichsetzt».
Argumente spiegelbildlich gekeult
Albanese hat demnach gegen Israel die Nazikeule geschwungen. Das ist, vor allem wenn es wiederholt geschieht, tatsächlich ein Indiz für Antisemitismus. Denn die Parallele Nazis/Israel beschwört eine antisemitische Lesart herauf; in der «Sprachlupe» vom 24. Juni habe ich diese Lesart so umschrieben: «Was den Juden geschah, tun sie nun den Palästinensern an.» So hat es Albanese natürlich nicht gesagt, aber wer es herauszuhören glaubt, bekommt Mühe mit ihrem Konter, «Antisemitismusvorwürfe würden als Waffe gegen Personen eingesetzt, die sich wagten, die israelische Regierung zu kritisieren» (immer laut NZZ vom 28. Juni, mit Login).
Wo aber Kritik an Israel ohne antisemitische Beiklänge auskommt, hat sie auch die Keule nicht verdient. Der ehemalige TV-Journalist Heiner Hug sagte es Ende 2023 im Journal 21 so: «Wenn Uno-Generalsekretär António Guterres einen Waffenstillstand fordert und deshalb von Jair Lapid, dem Oppositionsführer als ‹Antisemit› verteufelt wird, dann kann man nur den Kopf schütteln. Guterres hat es schlicht nicht mehr ertragen, dass täglich Hunderte unschuldiger Menschen sterben. Dies zu verhindern gehört zum Job eines Uno-Generalsekretärs. Ist man antisemitisch, wenn man den Tod Tausender Frauen, Kinder und Männer betrauert und verhindern will?»
* Der empfundene Antisemitismus ist vermutlich überhaupt erst der Grund dafür, dass sich der SIG zu diesem Fall von Israel-Kritik äussert; die religiöse Schweizer Dachorganisation sieht sich nicht als Vertretung Israels an und pflegt sich nicht zu dessen Politik zu äussern. Ohnehin sehe ich weder einen Adressaten noch einen legitimen Grund für eine Forderung wie diese: «Die jüdische Stimme in der Schweiz darf ruhig etwas lauter tönen: Nicht in unserem Namen!» (aus einem Kommentar zur vorherigen «Sprachlupe»)
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)