«Der Bund», 3. 5. 2013

Was lehrt uns der Waise Jun Do?

Es soll hier nicht um fernöstliche Weisheiten oder «Waisheiten» gehen, sondern nur ums grammatikalische Geschlecht des fiktiven nordkoreanischen Waisenknaben Jun Do. Über diese Waise hat der Amerikaner Adam Johnson einen Roman geschrieben, der soeben auf Deutsch erschienen ist, unter dem Titel «Das geraubte Leben des Waisen Jun Do» (Besprechung im «Bund» vom 30.4.). Während auf Englisch «orphan» zwanglos das Geschlecht der jeweils gemeinten Person annimmt, gilt im heutigen Deutsch gemäss Duden und anderen Wörterbüchern allein «die Waise» als richtig, für Knaben wie für Mädchen.

«Der Waise» ist allerdings in jüngerer Zeit recht häufig zu lesen, vielleicht weil die Abweichung zwischen natürlichem und grammatikalischem Geschlecht in Zeiten des wachsenden sprachlichen Chromosomenbewusstseins Schreibende und Lesende überfordert. Nach dem «natürlichen» Lauf der Dinge dürfte der heute noch eindeutige Fehler mit der Zeit den Segen des Duden erhalten, wenn er nur oft genug gemacht wird. Wenn ein renommierter Verlag wie Suhrkamp «Waise» als männliches Wort in einen Buchtitel setzt, ist anzunehmen, dass er das bewusst mit sprachprägendem Anspruch tut.

Der männliche Waise ist nicht von schlechten Eltern: Wie bei den Brüdern Grimm (auf Woerterbuchnetz.de) nachzulesen ist, taucht er schon im Althochdeutschen auf, und «auch im 16. und 17. jahrh. wird waise fast ausschlieszlich als masc. gebraucht». Weitläufig mit dem Vakuum verwandt, bezeichnet das Wort «Beraubte». Im 18. Jahrhundert schreibt ein anderer Wörterbuch-Pionier, Johann Christoph Adelung: «Am häufigsten gebraucht man es im Hochdeutschen als ein Fämininum, und da ist auch der Knabe eine Waise. Allein in andern Gegenden unterscheidet man es nach den Geschlechtern.» Da ist «Hochdeutsch» geografisch gemeint, im Sinn von Oberdeutsch.

Willkür der Normensetzung also, nicht sprachgeschichtliches Schicksal hat der Waise das grammatikalisch weibliche Geschlecht beschert, und wenn sie diese Fixierung verliert, also quasi bisexuell wird, so braucht man das nicht als Sprachverluderung zu beklagen: Man kann es auch als Rückkehr zu den Quellen verstehen, oder als vereinfachende Angleichung von grammatikalischem und natürlichem Geschlecht. Man darf gespannt sein, ob auch etwa der Geisel der gleiche Weg bevorsteht, oder gar der Kapazität, wenn nicht die hervorragende Eigenschaft gemeint ist, sondern ein männlicher Träger derselben: «Der Waise Jun Do ist ein Kapazität fürs Überleben in der Diktatur.»

Für Sprachfeministen (es gibt auch männliche) stellt sich da die Frage, ob sie sich über solche Wortemanzipation freuen sollen – oder aber bedauern, dass die wenigen «generischen Feminina» verschwinden. «Generisch» bedeutet, dass das jeweils andere Geschlecht «mitgemeint» ist. Das Hauptargument gegen die Verwendung (oder gar die Existenz) von generischen Maskulina lautet, dass die meisten Hörer oder Leser eben nur an Männer denken, wenn etwa von Ärzten die Rede ist; Studien zeigen, dass das Leserinnen und Hörerinnen ebenso geht, wenn auch in etwas geringerem Ausmass.

Umständlich ist die Abhilfe mit Umschreibung, Doppelnennung, Binnen-I oder Partizip (wie oben «Schreibende und Lesende», aber da waren sie wenigstens im dem Moment gemeint, in dem sie es tun). Erfinderische Vorschläge für neutrale Wortformen pflegen recht weltfremd auszufallen («dos Lesero», «das Lesewes»). Respektvoller Umgang mit beiden Geschlechtern zeigt sich eher im Inhalt als in der Form, und dann braucht auch das «Mitmeinen» nichts Herabsetzendes zu sein: Erlitte «der Waise Jun Do» im Nordkorea des Romans kein so haarsträubendes Schicksal, so wäre ihm die Bezeichnung «die Waise» durchaus zuzumuten.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)