«Der Bund», 17. 7.  2015

Ein Nachruf auf den Konjunktiv

«Wenn der Konjunktiv stürbe» – diesen Titel gab der Sprachpfleger Wolf Schneider 1998 einer seiner Betrachtungen im «NZZ Folio». Als Pflegefall hatte er damals Formen wie «stürbe» ausgemacht, die als «Konjunktiv II» in den Grammatiken stehen. Sie werden vom Imperfekt (Präteritum, Vergangenheit) abgeleitet und für hypothetische Fälle verwendet: konditional z. B. nach «wenn» oder irreal wie: «Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküsst.» Eichendorffs Gedicht wäre dahin, stünde da «als würde der Himmel die Erde still geküsst haben».

Auch wenn gestrenge Sprachlehrer einst predigten, «wenn ist würde-los»: Es ist nicht unzulässig, den Konjunktiv II mit «würde» zu umschreiben. Grammatiken legen fest, in welchen Fällen das geht, und mir scheint, sie würden damit immer grosszügiger. Nebenbei: Soeben stand «sie würden» als – nicht umschriebener – Konjunktiv II des Verbs «werden». Manch einer schriebe da umständlich «sie würden werden». Schneider liess die Umschreibung nur dann gelten, wenn der Konjunktiv gleich lautet wie das Imperfekt, etwa «sie würden gehen» statt «sie gingen», oder wenn die Zukunft gemeint ist (oder auch, was er nicht zu sagen brauchte, falls jemand «gegangen würde»). Ein Auge drückte er ebenfalls zu bei «unpopulären» Formen wie «nennte» oder «rennte».

Gestorben ist der Konjunktiv schon lange auf dem Fussballplatz: «Wenn er mich nicht anrempelt, erwische ich diese Flanke», sagt der Spieler, nachdem er die Torchance schon vermasselt hat. Er nimmt sich nicht einmal die Mühe, seine Ausrede mit «würde» zu versehen. Anderswo halten sich wenigstens die einfacheren Formen des Konjunktivs II und machen sich sogar auf Kosten des Konjunktivs I breit, dem dieser Nachruf eigentlich gilt. Der wird vom Präsens (Gegenwart) abgeleitet und ist vor allem in der indirekten Rede zuhause: «Sie sagte, sie gehe.»

Was aber, wenn von mehreren Leuten die Rede ist? «Sie sagten, sie kommen» klingt umgangssprachlich oder so, als berichte da jemand, der den Konjunktiv I nicht beherrscht. Diese Form lautet hier an sich gleich wie der Indikativ (Wirklichkeitsform). Deshalb «borgt» man, wie Schneider sagte, an ihrer Stelle den Konjunktiv II: «sie kämen». Als «häufigsten Verstoss» gegen die Regeln für indirekte Rede machte er aus, dass diese Ausleihe zu oft erfolge: «Sie sagte, sie hätte keine Zeit, ihr Mann wäre betrunken.» In der Schweiz höre man die richtigen Formen – «habe» und «sei» – «überdurchschnittlich oft», lobte der Berliner Schneider, und er tadelte Bayern und Österreich: Dort «zieht man statt dessen das falsche würde vor: ‹Sie sagte, sie würde die Nase voll haben.›»

Just dieses würde in indirekter Rede greift nun auch in der Schweiz um sich. Im Dialekt ist es mir zum Glück noch nicht begegnet; da sind die kernigen und richtig verwendeten Konjunktivformen quicklebendig. Aber im Hochdeutsch des Radios und der Zeitungen wimmelt es von Sätzen wie: «Der Bundesrat gibt bekannt, er würde mit der EU verhandeln.» Gemeint ist nicht etwa, er täte das, wenn sich Brüssel dazu hergäbe, sondern es geht um Verhandlungen, die laut Bundesrat bereits stattfinden. Sogar die arg nach Mundart klingende Formulierung «er tue verhandeln» wäre hier besser, weil nicht missverständlich. Aber es ginge ja auch ganz einfach und fehlerfrei: «er verhandle».

Nur kommt es auch da vor, dass der Plural nach Vergangenheit tönt: «Er sagte, seine Delegierten verhandelten.» Kein Problem, solange man (dank «er sagte») weiss, dass hier eine Aussage wiedergegeben wird. Aber wenn sich die Wiedergabe in die Länge zieht, vergisst man das beim Lesen oder Hören – und wird mit «würden verhandeln» daran erinnert. Oder eben irregeführt, weil man noch so sprachbewusst ist, dass man einen mit «würde» umschriebenen Konjunktiv II vermutet. Dann erwartet man, dass eine Bedingung erfüllt sein müsste, bevor die Delegierten wirklich verhandeln würden.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)