«Der Bund», 9. 1.  2015

Rufst du, mein Abendland?

Die einen gehen gegen seine «Islamisierung» auf die Strasse, die andern neuerdings gegen seine «Idiotisierung»: Das Abendland wird in Deutschland für politische Zwecke beansprucht. Das Wort bietet sich dazu an, für Frontbildungen eingespannt zu werden, denn wo ein Abendland ist, muss auch ein Morgenland sein. Und nicht alle halten es mit Goethe: «Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.»

Als die drei Weisen, auch als «heilige drei Könige» bekannt, aus dem Morgenland kamen, muss Bethlehem noch im Abendland gelegen haben. Später wurde der Gegensatz innerhalb des Christentums verwendet, nach der Spaltung in Ost- und Westkirche. Jedenfalls steht in Herders Theologischem Lexikon: «Mit dem Untergang von Byzanz verliert der Begriff Abendland im durchschnittlichen Sprachgebrauch seinen Gegenbegriff und geht so in den Begriff ‹Europa› über.» Dem lateinischen «occidens» (für die untergehende Sonne) kam also damals der ebenfalls christliche «oriens» abhanden, aber noch bevor die Muslime 1453 Byzanz eroberten, waren sie der neue orientalische Gegner.

Auf deutsch ist «Abendland» laut Wikipedia erstmals 1529 nachgewiesen. War der Begriff je deckungsgleich mit «Europa», so blieb er es nicht über die Aufklärung hinaus. Das Theologische Lexikon (zitiert nach Wiktionary) fährt fort: «Heute soll Abendland begrifflich oft die … christlich-religiöse Kultureinheit des Mittelalters und ihre Fortwirkung abheben von der säkularisierten Geschichte des späteren Europas.» Den «Untergang des Abendlandes» stellte der Kulturphilosoph Oswald Spengler 1918 als so unvermeidlich dar wie das Ende jeder früheren Hochkultur.

Doch zumindest der Begriff ist noch nicht untergegangen. Er erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sogar eine neue Blüte, namentlich bei den tonangebenden Christlichdemokraten. Zusammen mit Gesinnungsfreunden in Frankreich, in Italien und im Benelux gaben sie auch der künftigen Europäischen Union ein abendländisches Gepräge. Die Frontstellung galt dem sowjetischen Totalitarismus, erlaubte aber rückblickend auch die Distanzierung von jenem der Nationalsozialisten. In dieser Logik «vollbrachte Hitler eine ‹asiatische› Tat» (Ernst Nolte, Historiker). Was den Nazi-Führer freilich nicht daran gehindert hatte, seine Wehrmacht nach der Niederlage bei Stalingrad 1943 zum Kampf für die «Rettung des Abendlandes» aufzurufen, «bis zum letzten Soldaten».

In der deutschen Nachkriegsoptik machte es sich besonders gut, nun vom «christlich-jüdischen Abendland» zu reden. Gewiss fusst das Christentum auf dem Judentum, aber hinter der begrifflichen Vereinnahmung scheint etwas anderes zu stecken. Der Kolumnist Harald Martenstein sagt es so: «Durch die Hereinnahme des Wortes ‹jüdisch› wird das Abendland sofort kuscheliger und defensiver, als es je war.» Und: «Vor allem dem Islam wird die Fahne der christlich-jüdischen Tradition gerne entgegengehalten.»

Gerade in dieser Frontstellung gegen den Islam wird das Abendland auch mit Mahnungen eingedeckt, wieder «christlicher» zu werden. Dass die Säkularisierung zum Untergang des Abendlands beitrage, glaubte auch Spengler; für ihn war die nächste Hochkultur eine russische. Und siehe da: Heute wird für manche Abendland-Vorkämpfer Putins Reich ein willkommener Bündnispartner. Dieses beruft sich ja auf die christliche Orthodoxie mit Moskau als «drittem Rom» und damit Erben von Byzanz. Zugleich hält dieses Russland dem «dekadenten» Westen eine «eurasische Identität» entgegen, die mit einer eigenwilligen Auffassung von Demokratie einhergeht. Wer sich nach all diesen Begriffsverwirrungen auf das Abendland beruft, sollte zumindest klarstellen, ob auch Humanität, Menschenrechte und der weltliche, demokratische Rechtsstaat dazugehören.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)