«Der Bund», 2. 6. 2021



Kartenspuk beim Bantiger

Tauchgang eines Wanderwegs

Bei Boll war ein beliebter Weg drei Jahrzehnte gar nicht eingezeichnet – und dann ebenso lang falsch. Jetzt zeigt ihn die Karte wieder so, wie er die ganze Zeit verlief.

Daniel Goldstein


Oberhalb von Boll: Kein Zweifel, dass dies ein Weg ist. Nur auf den Landkarten verschwand er zwischenzeitlich.

Als die Vereinigten Bern–Worb-Bahnen noch längst nicht im RBS aufgegangen waren, konnte man sich auf ihre Wanderkarte von 1952 verlassen und für den Spaziergang von Boll-Sinneringen nach Ferenberg auswählen: südlich oder nordöstlich um den Äschiwald oder eben mitten hindurch (Abbildung 1).

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber wer zum Beispiel die Wanderkarte von Kümmerly und Frey von 1974 erstand, sah nur die beiden Wege um den Wald herum. Wollte man mittendurch, war ein unwegsames Stück Wald zu befürchten (Abbildung 2). Die etwa 300 Meter lange Strecke erwies sich aber auch damals sogar als kinderwagentauglich, fast durchgehend ein Karrweg, meist ins Gelände eingeschnitten.

Wanderkarte von 1952: Südöstlich von Ferenberg führt ein Weg mitten durch den Wald beim Punkt 783 vorbei.

Wanderkarte von Kümmerly und Frey 1974: Vom mittleren Weg durch den Äschiwald fehlt jede Spur. Die getüpfelte Linie ist die Gemeindegrenze.



Dass der mittlere Weg auf der Karte fehlte, war – wenigstens für Einheimische – kein Grund, ihn zu nicht zu benutzen. Aber wer damals, frisch zugezogen, mit der Karte in der Hand seine neue Umgebung erkundete, mochte sich wundern und den Weg vielleicht selber einzeichnen. Eine weitere Überraschung konnte erleben, wer im Lauf der Jahrzehnte das kartografische Schicksal des Wanderwegs verfolgte.

In der Zeit wandern

Die damalige Eidgenössische Landestopographie ist heute ein Bundesamt mit offiziellem Kurznamen swisstopo. Es bietet am Bildschirm eine Zeitreise an. So sieht man, dass sich in dieser Gegend 1955 das Kartenbild

gründlich veränderte: Die Landeskarte heutiger Machart löste die frühere Siegfriedkarte ab. Und dabei verschwand südlich der (getüpfelten) Gemeindegrenze das Wegstück beim Schriftzug «wald».

Felix Frey, Historischer Fachspezialist bei Swisstopo, erklärt dazu: «Mit der Landeskarte gingen auch neue Richtlinien zur Erfassung einher, weshalb zahlreiche Wege aus dem Kartenbild entfernt wurden – dies vor allem mit dem Ziel, die Landeskarte nicht mit Detailinformationen zu überladen und übersichtlich zu halten.»

Er weist auf weitere Wegstrecken in der Nähe hin, die nicht mehr wiedergegeben wurden. Ein ähnlich markantes und begangenes Stück wie das verschwundene im Wald tauchte auf der Landeskarte schon 1963 wieder auf – vom Tal her übers Äbnit beim Schloss Sinneringen.

Wer aber wie oben geschildert mitten durch den Äschiwald wollte, musste bis 1987 auf kartografische Hilfe warten. Und wer dann genau hinschaute, stutzte: Der nunmehr eingezeichnete Karrweg zweigte im Aufstieg vom realen Verlauf ab, nach Nordwesten steiler hinauf und dann in etwa 30 Metern Abstand parallel zum altbekannten.

Dass man nach einem Tauchgang anderswo an die Oberfläche kommt, ist normal – aber gilt das auch für Wanderwege? Alteingesessene können sich an keinen Weg erinnern, der dieser Karte entsprochen hätte. Zwar ist die Zuverlässigkeit der Landeskarten legendär, aber hier wird kaum jemand versucht haben, sich genau dort durch den Wald zu schlagen, wo es die neue Karte gebot. Es gab ja auch noch keine GPS-Geräte, die einen auf den Holzweg geschickt hätten. Aber als die tragbaren Navigationshilfen um die Jahrtausendwende aufkamen, blieb ihnen noch genug Zeit für solche Streiche.

Phantomweg bleibt unerklärt

Auf der Zeitreise in der elektronischen Landeskarte ist zu sehen, dass der rare Fehler erst 2016 korrigiert wurde. Wer vorher den Kartenausschnitt mit der App von SchweizMobil abgespeichert hatte, bekommt nun beide Varianten gleichzeitig zu sehen (Abbildung 3).


Wanderkarte von Schweiz Mobil: Den grünen Weg gibt es nur teilweise, der gelbe Weg ist der echte.

Grün leuchtet der zum Teil fiktive Weg (1987–2015). Sobald das Handy Datenverbindung hat, kommt gelb der neue, also der alte, kurz: der echte. Früher wurden die Wanderwege grün angezeigt; heute wird wie bei den Markierungen unterschieden: gewöhnliche gelb, gebirgige rot, alpine blau. Von Westen her gab und gibt es im Äschiwald tatsächlich ein Stück des «grünen» Wegs unterhalb des erratischen Blocks (seit 2011 «Wagnerstei»). Doch die Fortsetzung führt nicht hinunter nach Boll, sondern nach Norden um den Punkt 782 herum. Dies wird sichtbar, wenn man die Karte vergrössert; zudem «wächst» dann der Hügel um einen Meter – die Erklärung dazu folgt weiter unten.

Gedruckte Wanderkarten übernahmen den zwischenzeitlichen Verlauf, dessen Abweichung je nach Massstab kaum auffällt. Irgendwann um die Jahrtausendwende wurde er auch wieder als Wanderweg ausgewiesen. Der Kartenhistoriker Frey schrieb dazu, er habe im Archiv «keine Erklärungen für das Wiederauftauchen des Weges 1987 gefunden». Er erstellte zudem eine Kombination von heutigem Kartenbild mit einer Zeitreise durch Luftaufnahmen.

Datentechnik schafft Klarsicht

Da meint man zu sehen, dass just ab 1987 der richtige Weg auch aus der Luft zu bemerken gewesen wäre. Frey erklärt aber, damals hätte nur eine Begehung Klarheit schaffen können: «Mit Sicherheit zu erkennen ist der Waldweg erst auf dem Luftbild von 2007.» Gerade dann indessen «stand swisstopo vor einer grossen technischen Veränderung» mit der Einführung «des Topografischen Landschaftsmodells TLM (aber nicht in diesem Gebiet)». Parallel dazu arbeitete man weiter mit bisherigen Methoden, aber weniger Aufwand: «Waldwege wurden in dieser Nachführung mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht kontrolliert».

Danach jedoch zeigte sich der Nutzen des neuen, digitalen Modells: 2016 wurde dieses Gebiet laut Frey zum ersten Mal nach TLM-Manier aufgebaut und überarbeitet. Es lagen also Luftbilder ohne Laub und ein Höhenmodell vor. Mit diesen Informationen kann die Geometrie von Waldwegen viel exakter bestimmt werden. Swisstopos Höhenmodell swissALTI3D macht den Weg stellenweise deutlich sichtbar. Anfang Jahr war die Überarbeitung für die ganze Schweiz fertig; somit liegt jetzt für Bildschirme auch eine Landeskarte 1:10’000 vor. Die gedruckten Karten ab 1:25’000 werden oder sind schon daran angepasst.

Der Hügel wächst, der Mönch auch

Das digitale Modell hat stellenweise zu Höhenkorrekturen geführt, so beim oben erwähnten Punkt 783. Diese neue Höhenangabe ist zufällig auch die ganz alte auf der Wanderkarte von 1952. Freilich hätte damals 785 stehen müssen, wie auf der offiziellen Siegfriedkarte. Als die von der modernen Landeskarte abgelöst wurde, «sank» die ganze Schweiz um 3 m, entsprechend der Neuvermessung des Referenzpunkts in Genf (Pierre du Niton); der Hügel ob Boll kam also auf 782. Dieser Wert taucht auch auf der aktuellen Online-Karte noch auf, wenn man den Massstab verkleinert.

Auch hierzu hat der Kartenhistoriker eine kombinierte Abbildung erstellt. Damit, wie auch mit den Luftaufnahmen, lässt sich herrlich spielen: Ausschnitt und Massstab ändern, in der Zeit reisen, Grenze zwischen Geländebild und Karte verschieben (nach links zum genannten Punkt). Nur ein Waldspaziergang ist schöner.

Wer höher hinauswill und ganz hoch hinauskann, dem bietet sich der Mönch an: Er hat gleich drei Höhenmeter zugelegt. Neben der verbesserten Messtechnik hat hier wohl auch die Rundung eine Rolle gespielt. Nach Swisstopo-Angaben wurden die Höhen früher «aufgrund der weniger genauen Datengrundlage jeweils abgerundet»; jetzt rundet man kaufmännisch, also ab einer 5 hinter dem Komma auf den nächsten ganzen Meter auf. Der Mönch ragt nun statt 4107 stolze 4110 Meter über die kartografische Meereshöhe.